von Christoph Prantner*
Mit freundlicher Genehmigung des Autors veröffentlichen wir einen bemerkenswerten Beitrag zum Thema »Identität«, welcher unlängst auf dem Internetportal des Netzwerkes für Südtiroler im Ausland suedstern.org publiziert wurde.
Immer wenn ich aus Österreich kommend den Reschenpass überquere und am halbversunkenen Kirchturm von Graun vorbeifahre, fällt mich die Heimat an. Dann wird mir warm ums Herz. Es stellen sich Erinnerungen ein. Ich beginne meine Kindheit zu riechen, Bilder aus längst vergangenen Tagen zu sehen, die weiche Hand der Großmutter auf meinem Haar zu spüren. Diese Heimat lässt mich Geborgenheit fühlen. Gleichzeitig aber befeuert sie mein Misstrauen. Denn ich bin nicht mehr der strohblonde Bub, der ich einmal war. Heimat, vor allem wie sie in Südtirol oft definiert wird, ist ein Ausschlussbegriff: Mir sein mir. Die anderen sind die anderen.
Diese Unterscheidung gibt es zu Recht. Bloß, sie darf nicht die einzige sein, die Identität begründet. Denn in globalisierten Verhältnissen ist die ganze Welt ein Dorf. Wir sind die anderen und die anderen sind wir. Das ist eine der wichtigsten Erfahrungen, die alle machen können, die ein wenig um die Welt kommen. Ethnische, soziale, politische und kulturelle Identitäten lösen sich auf und setzen sich neu zusammen. Gibt es so etwas wie Heimat in unserer modernen Welt, dann ist sie allemal konstruiert, zersplittert und aus verschiedenen Bausteinen zusammengesetzt.
Welche Bausteine wir verwenden, wie beschaffen und wie groß sie jeweils sind, das hängt von uns ab, den Baumeistern unserer Identität(en). Wie viele Heimstätten wir uns damit errichten, ist unsere Sache. Genau deswegen können Tiroler Widerstandsgeist und smarte Weltläufigkeit miteinander verbunden werden, deswegen gehen Bodenständigkeit und internationale Karrieren zusammen, ergänzen sich deutsche und italienische Tugenden, haben Hipster aus Siebeneich mit ihren Subkulturkollegen aus New York mehr gemeinsam als mit der Schützenjugend aus dem gleichen Dorf.
War es das Merkmal der Moderne, dass Menschen sich auf ihre Individualität besannen, so ist es das Zeichen der Postmoderne, dass sie sich multiple Identitäten aneignen. Wir sind die anderen, ja. Wir sind aber auch viele andere. Dadurch wiegen die alten Ausschlussgründe nicht mehr so schwer. Auch daran muss ich denken, wenn ich am Kirchturm vorbeifahre – und mein Misstrauen schwindet wieder.
*) Christoph Prantner ist seit 1997 Journalist bei der Tageszeitung “Der Standard” in Wien. 2007 übernahm er die Leitung des außenpolitischen Ressorts bei Österreichs führender Qualitätszeitung. Seit 2013 ist Prantner als Leitender Redakteur für die Meinungsseiten des Blattes verantwortlich. Der 43jährige aus Schlanders hat in Wien und Los Angeles Philosophie, Geschichte und Politikwissenschaften studiert und bei “Die Welt” in Berlin (2001) und “USA Today” in Washington D.C. (2007) Erfahrung gesammelt. Als Reporter hat er 50 Länder bereist und Interviews mit Persönlichkeiten von George H. W. Bush bis George Soros geführt.
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