Das Muster ist bekannt. Irgendein Vertreter des öffentlichen Lebens nimmt das Wort Unabhängigkeit in den Mund und prompt folgt gebetsmühlenhaft das Dementi eines SVP-Vertreters. Diesmal erlaubt sich der Landeskommandant der Trentiner Schützen die Schlussfolgerung, man würde für ein “Los von Rom” eintreten, wenn der Zentralstaat weiterhin die Autonomie beschneide. Eigentlich eine Konsequenz, zu der auch ein SVP-Exponent gelangen müsste. Wie oft hat man beteuert, man würde zur Selbstbestimmung greifen, wenn der Zentralstaat Verträge breche. Doch auf die Aussage des Trentiner Schützenkommandanten Dalprà folgen prompt die Dementis des Trientner Landeshauptmannes Rossi und seines Südtiroler Amtskollegen Kompatscher, der in den Dolomiten vom 3.11.2014 wie folgt zitiert wird:
Regierungschef Renzi könnte – selbst wenn er es wollte – mit mir nicht über eine Volksabstimmung verhandeln, weil sie verfassungswidrig wäre.
Somit ist das Thema für den Südtiroler Landeshauptmann gegessen. Der Zentralstaat kann jedenfalls stolz sein: Man hat in der Südtiroler Mehrheitspartei einen treuen Verteidiger der nationalen Einheit gefunden. Passt auch ganz gut zum morgigen 4. November. Der Zentralstaat muss sich zu diesem Thema ja gar nicht äußern, das übernimmt die SVP von ganz alleine.
Selbst, wenn man sich (so wie die SVP) hinter rechtlichen Aspekten versteckt — in diesem Falle geht es um den Art. 5 der italienischen Verfassung —, gäbe es genügend rechtlichen Spielraum, das Thema auszureizen. Wo steht denn beispielsweise das Verbot, eine ergebnisoffene, gesellschaftlich breit angelegte Diskussion über Südtirols Zukunft, einschließlich der Möglichkeit der Unabhängigkeit, zu führen? Eine Diskussion, die abklärt, welcher Weg für Südtirol gesellschaftlich wünschenswert wäre. Sollte sich bei diesem Prozess herauskristallisieren, dass es für Südtirol sinnvoll wäre, die Unabhängigkeit anzustreben, dann müssten eben Wege gefunden werden, um den rechtlichen Rahmen einem gesellschaftlichen Bedürfnis anzupassen. Alles andere wäre undemokratisch.
Unabhängig von akademisch zwar ganz netten Diskussionen über rechtliche Aspekte, zeigt die Entwicklung der Menschrechte im allgemeinen und der Demokratie im spezifischen, dass
Rechte politisch erfolgreiche Forderungen sind.
In der Geschichte der Demokratie und der Menschenrechte, ein Prozess, der noch in keiner Weise abgeschlossen ist — und wir reden hier als Teil der europäischen Wertegemeinschaft von friedlichen Prozessen — wurden immer wieder Forderungen artikuliert, die gegen bestehendes Recht verstießen oder dieses bis aufs äußerste ausreizten.
Ohne engagierte Idealisten und Visionäre gäbe es heute keinen Menschenrechtskodex, kein Frauenwahlrecht und keine Homoehe (zumindest in einigen Ländern). Ohne Katalonien wüssten wir nie, wie sich Spanien zur Forderung nach Unabhängigkeit verhält. Dort wird Geschichte geschrieben, in Südtirol wartet man darauf bis Neumond und Vollmond zusammenfallen. Wie lange kann sich Südtirols Gesellschaft noch leisten, von visionslosen Duckmäusern regiert zu werden?
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