@31bbd ist also jedeR, der oder die gegen sezessionen argumentiert einE Status-Quo-FetischistIn?
— Simon Pötschko (@s_poetschko) 6. September 2014
Lieber Simon,
ich erlaube mir, dir etwas detaillierter auf deinen obigen Tweet an zu antworten. Anton Pelinka ist ein von mir sehr geschätzter Wissenschaftler, von dem ich im Laufe meines Politikwissenschaftsstudiums in Innsbruck sehr viel gelernt habe. Prof. Pelinka ist eine herausragende akademische Persönlichkeit und verfügt über ein beeindruckendes Wissen. Umso verwunderter stelle ich fest, dass Pelinka in deinem Interview erschreckend engstirnig argumentiert und sich in dieser Argumentation einer nationalistischen Logik nicht zu entziehen vermag. Zudem sind Behauptungen schlichtweg falsch.
Unser () Kritikpunkt ist nicht, dass Pelinka gegen Sezessionen ist. Eine begründete Gegnerschaft, basierend auf (validen) Argumenten, ist natürlich legitim, ja sogar erwünscht. Wolfgang unterstellt in seinem Artikel keinesfalls allen, die gegen Sezession sind, Status-Quo-Fetischismus. Er belegt jedoch akribisch, dass Pelinka einem solchen anheimgefallen ist.
Das Hauptproblem ist, dass Pelinka zu wenig differenziert. Um diesen Vorwurf zu untermauern, muss ich etwas weiter ausholen:
- Zunächst einmal müssen wir zwischen Selbstbestimmung und Sezession/Unabhängigkeit unterscheiden. Ersteres ist ein Prozess, zweiteres ein mögliches Ergebnis dieses Prozesses. Die Ausübung der Selbstbestimmung kann auch bedeuten, dass sich die Bevölkerung für die Beibehaltung des Status Quo entscheidet. Demzufolge kann ich für die Selbstbestimmung und gleichzeitig gegen die Sezession/Unabhängigkeit sein. Gar einige Protagonisten der Better-together- bzw. No-thanks-Kampagne in Schottland kann man wohl dieser Gruppe zurechnen. Selbstbestimmung ist also nichts weiter als eine demokratische Abstimmung. Eine solche Abstimmung als Unfug zu bezeichnen ist undemokratisch und inhärent nationalistisch. Nationalistisch aus dem Grund, da ich der Frage der “ethnischen” Zugehörigkeit einen höheren Stellenwert als anderen Merkmalen beimesse. Konsequent antinationalistisch gedacht ist die staatliche Zugehörigkeit eine Sachfrage wie jede andere auch. Oft hört man in Südtirol den Einwand, dass im Falle einer Abstimmung die “deutsche Mehrheit” über die “italienische Minderheit” entscheiden würde. Erstens sind diese beiden Körper in ihrem Abstimmungsverhalten nicht homogen und zweitens wäre der einzige Grund, die Entscheidung als “drüberfahren” zu empfinden, ein nationalistischer. Jedenfalls hab ich noch nie den Einwand gehört, dass beim jüngsten Referendum in Italien die Atomkraftgegner über die Atomkraftbefürworter “drübergefahren” wären. Oder vergleichstechnisch noch genauer: Ich habe keine Beschwerden vernommen, dass bei der Bundesheerabstimmung in Österreich die Frauen über die Männer drübergefahren wären, da mehr Frauen als Männer für die Beibehaltung der Wehrpflicht (die sogar nur die Männer betrifft) stimmten.
- Wir sollten in einer modernen Demokratie unter Selbstbestimmung nicht alleine das schwammige, antiquierte und tatsächlich rückwärtsgewandte “Selbstbestimmungsrecht der Völker” verstehen, das einer nationalen Logik folgt – zumindest aber könnten und sollten wir es uminterpretieren. Selbstbestimmung bedeutet in erster Linie, dass die Bevölkerung eines Territoriums die Entscheidungshoheit über all ihre Belange hat. Es wäre zutiefst undemokratisch, sollte eine übergeordnete Macht (wie zum Beispiel Spanien) dem mehrheitlichen Wunsch eines Territoriums (wie zum Beispiel Katalonien) eine Abstimmung abzuhalten, nicht entsprechen. Der Verweis auf anachronistische Regelungen wie die “Einheit und Unteilbarkeit des Staates” ist eine faule Ausrede. Schottland zeigt mit seinem “inclusive nationalism” auch, dass es den Volksbegriff nicht national versteht. So sind beim Referendum nicht nur im nationalen Sinne “echte Schotten” abstimmungsberechtigt, sondern alle in Schottland lebenden EU-Bürger. Pelinkas korrekter Einwand, dass es schwierig sei, ein Volk zu definieren, ist daher obsolet. Schottland versteht sein Referendum nicht völkisch sondern territorial motiviert. Siehe dazu den exzellenten Beitrag, den Simon für den Skolast (Zeitschrift der Südtiroler HochschülerInnenschaft) geschrieben hat. Ein weiterer Hinweis darauf, dass die SNP keine klassisch nationalistische Politik betreibt, ist ihr Vorschlag eines Staatsbürgerschaftsrechts in einem unabhängigen Schottland, das zu den liberalsten auf der ganzen Welt zählen dürfte.
- Die Verwendung der Begriffe “Nation” und “national” im Zusammenhang mit den Sezessionsbestrebungen in Schottland ist daher etwas widersprüchlich. Ich vermute, dass der Begriff “nation” im Englischen sich bereits etwas weiter von seiner ursprünglichen Bedeutung entfernt hat als im Deutschen und ihn Englischsprachige daher unverkrampfter verwenden. “The greatest nation on earth”, wie die USA von dortigen Politikern immer wieder gerne genannt werden, ist keine Nation im eigentlichen Sinne (Stichwort Verfassungspatriotismus), sondern eine Willensnation. Dieser Begriff wiederum ist ein Paradoxon, denn der Nationalismus gründet auf der (meines Erachtens hirnrissigen) Annahme, dass man durch Geburt (lat. “natio”) mit einer Gemeinschaft verbunden ist und das Gemeinwesen auf dieser Zusammengehörigkeit aufbaut. Diese Zugehörigkeit ist somit nicht meinem Willen unterworfen. Wenn der Sozialdemokrat Salmond von “nation” spricht, meint er jedoch eine Willensgemeinschaft. Laut SNP beruht die Zugehörigkeit zu Schottland nämlich auf einer freien Willensentscheidung und nicht auf einer angeborenen Eigenschaft. Das “Böse” am Nationalismus ist doch, dass er aufgrund unveränderlicher Merkmale eine unterschiedliche Behandlung von Menschen rechtfertigt. Baue ich mein Gemeinwesen auf einer individuellen freien Wahl der Zugehörigkeit auf und unterwerfe ich die kollektive Zugehörigkeit einer demokratischen Abstimmung all dieser Individuen, ist das kein Nationalismus mehr. Ich finde es abstrus bis perfide, dass Pelinka dem demokratisch einwandfreien Ansinnen der SNP auch noch Gewaltpotenzial unterstellt.
- Auch das Risiko-Argument (Stichwort Flächenbrand) wirkt angesichts der größten Vertrauens- und Systemkrise, mit der die EU je konfrontiert war, ziemlich lächerlich. Die Unionisten tun gerade so, als ob der Status Quo keine Risiken bergen würde. Ich bin der festen Überzeugung, dass die großen Nationalstaaten, die die bürgerferne EU-Exekutive geschaffen haben und diese dominieren, Schuld am – auch von Pelinka attestierten – schlechten Image (und wie ich meine auch schlechten Funktionieren) der EU sind. Alles, was darauf abzielt, die nationalen Interessen innerhalb der EU zu schwächen, kann ein Schritt zu ihrer Modernisierung sein. Das “Grenzen abbauen”– und “keine neuen Grenzen ziehen”-Argument ist extrem oberflächlich. Eine der größten Sorgen Schottlands ist ein eventueller Rauswurf aus der EU, während UK eine Abstimmung über den Austritt erwägt. Schottland würde also seine Grenzen zum restlichen Europa wesentlich durchlässiger gestalten, als es UK jetzt und wohl auch in Zukunft tut. Es würden Grenzen abgebaut, obwohl neue gezogen werden. Das in vielen Bereichen tatsächlich vorteilhafte “small is beautiful” stellt sich in diesem Zusammenhang auch etwas komplexer dar, als es den Anschein hat. Schottland möchte sich nicht isolieren. Und die schottischen Grünen schon gar nicht. Doch Schottland ist bereits in einen größeren Verbund – nämlich die EU – eingebunden und würde es gerne bleiben. Den Verbund mit UK erachtet die SNP hingegen als überflüssig und belastend. Im Sinne einer nachhaltigen pazifistischen (Stichwort Atomwaffen), sozialen (Stichwort Sozialstaat nach skandinavischem Vorbild) und ökologischen Zukunft für Schottland ist das durchaus nachvollziehbar.
Ich für meinen Teil finde die Vision eigenstaatlicher, bürgernaher, inklusiver und selbstbestimmter kleiner Einheiten in einem europaweiten, engen Verbund sehr verlockend. Ein nachnationales Europa im Sinne Robert Menasses zu versuchen, ist das Risiko wert. Viel holpriger als die EU derzeit dahinrattert wird’s schon nicht werden.
Liebe Grüße
Harald Knoflach
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