Die Südtiroler Tageszeitung hat mit dem Politologen Anton Pelinka am 05.09.2014 wieder einmal einen Interviewpartner gefunden, der den SüdtirolerInnen im spezifischen und den nach Unabhängigkeit strebenden europäischen Regionen im allgemeinen erklären möchte, warum man Südtirol nicht mit Schottland vergleichen kann und warum das Selbstbestimmungsrecht als allgemeiner Grundsatz überholt ist.
Das Vergleichsargument lässt sich so leidlich ausschlachten. Während sich die Vertreter des Status Quo nicht schwer tun, gesellschaftlich und kulturell sehr unterschiedliche Regionen zu vergleichen, wenn es ihrer Ideologie der bedingungslosen »Realpolitik« dient, wird nun umgekehrt Schottland als ein völlig spezifischer Fall definiert, der mit Südtirol nichts zu tun hat. Reiner Luyken, Journalist der Zeit, tut sich zum Beispiel nicht schwer, einen abstrusen Vergleich zwischen dem Balkan und Großbritannien herzustellen, während nun Pelinka Ähnlichkeiten zwischen Schottland und Südtirol verneint.
Pelinka befürchtet durch Schottland einen Dominoeffekt, der auf ganz Europa übergreifen könnte. Dabei werden wieder munter Äpfel mit Birnen in denselben Korb geworfen: Ein Dominoeffekt für Katalonien, Baskenland, Flandern und Südtirol, wie auch für die Ukraine oder gar Transnistrien.
Zwei Rückschlüsse Pelinkas sollen nicht unwidersprochen bleiben:
- Für Pelinka und andere Status-Quo-Fetischisten hängt die Stabilität Europas von der Unantastbarkeit der heutigen nationalstaatlichen Grenzen ab. Das Friedensprojekt Europa würde durch die Entstehung neuer unabhängiger Regionen und die Schwächung der heutigen Nationalstaaten anscheinend Schaden nehmen.
- Die Abstimmung in Schottland wird von Russland in der Ukraine missbraucht werden.
Die EU ist in der Tat ein Friedensprojekt mit weltweiter Vorbildfunktion. Bis dahin kann man dem Politologen zustimmen. Dieses Friedensprojekt ist aber — wie auch Robert Menasse sagt — auf halbem Weg in einer Sackgasse steckengeblieben. Die bisherige europäische Integration stößt mittlerweile an ihre Grenzen.
a) Europa hat ein Demokratieproblem: Es gibt z.B. keine europäische Regierung, die einem vom Volk gewählten Parlament Rechenschaft schuldig ist und von diesem Parlament auch abgesetzt werden kann. Auch gibt es keine gesamteuropäischen Mechanismen der direkten Demokratie.
b) Zusätzlich gibt es keine Überwindung der nationalstaatlichen Logik innerhalb der europäischen Institutionen. Das gute und schlechte Wetter wird von einigen großen Nationalstaaten gemacht, denen letztendlich das nationale Wohl wichtiger ist als das europäische Wohl.
Im Artikel der Südtiroler Tageszeitung stellt Pelinka die Frage:
Aber wo enden die Unabhängigkeitsforderungen? Werden dann die Andalusier in Spanien auch kommen?
Die nationalstaatlich dominierte EU war bis heute nicht gewillt und nicht in der Lage, einen Rahmen zu schaffen, der solche Fragen zu nebensächlichen Verwaltungsfragen herunterbricht. Hätte die EU einen verbindlichen Rahmen von Werten und Prinzipien geschaffen, innerhalb dessen europäische Regionen nach mustergültig ausgearbeiteten demokratischen Prozessabläufen unabhängig werden können, könnte man auf die obige Frage antworten: Ja, wo liegt das Problem, wenn auch Andalusien eine unabhängige, in die EU eingebettete Region wird?
Die heutige EU kommt mit den von den Status-Quo-Fetischisten verteidigten Dogmen weder aus der Sackgasse heraus in der sie sich befindet, noch kann sie ihre Vorbildfunktion für Regionen und Länder außerhalb der EU weiterentwickeln.
Russland könnte die Abstimmung in Schottland gar nicht für die Ukrainefrage missbrauchen, wenn die EU-Diplomatie auf europäische, demokratisch musterhafte Prozesse verweisen könnte, nach denen innereuropäische Unabhängigkeitsfragen gelöst werden. Aber anstatt die Prozesse in Schottland und Katalonien aktiv zu nützen, um musterhafte Prozesse auszuarbeiten, werden nach Unabhängigkeit strebende Regionen eingeschüchtert und mit Drohungen konfrontiert.
Gäbe es diese Vorbildfunktion der EU, bräuchte auch niemand vor einem Dominoeffekt Angst zu haben. Es wäre sozusagen ein Demokratieexport, zumindest ein starkes Verhandlungsargument, um in Krisengebieten ganz andere Lösungen als heute anbieten zu können.
Diejenigen, die verkrampft am heutigen Status Quo festhalten und jede ergebnisoffene Diskussion im Keim ersticken, verhindern, dass durch die innereuropäischen Unabhängigkeitsbewegungen einerseits die blockierte Integration der EU wieder in Gang gesetzt wird und sich daraus musterhafte demokratische Prozesse entwickeln.
Interessant Pelinkas Antwort auf die Frage:
Stehen diese Unabhängigkeitsbestrebungen für einen neuen Nationalismus?
Also ich sehe da wenig Neues. Es ist sicherlich kein Nationalismus, der expansiv aggressiv ist. Ich glaube nicht, dass ein unabhängiges Schottland Grenzverschiebungen gegenüber dem Rest des Vereinigten Königreiches anstrebt oder sich massiv militarisiert. Es wird also nicht ein Nationalismus des 19. und frühen 20. Jahrhunderts sein, aber allgemein ist eine potentielle Entwicklungsmöglichkeit in diese Richtung da. Und wir haben die grauslichen Nationalismen in Südosteuropa gesehen und jetzt jene in Teilen der früheren Sowjetunion. Das zeigt, dass der Nationalismus zwar nicht eins zu eins derselbe ist wie im 19. Jh., aber auch nicht völlig anders ist, was seine potentielle Gewalttätigkeit betrifft.”
Erstaunlich, dass hier allesamt Beispiele von Nicht EU-Regionen herhalten müssen. Der Balkan und die Ex-Sowjetunion. Einen kleinen demokratiepolitischen Unterschied zwischen EU-Regionen und den genannten Regionen sollte Pelinka schon ausmachen (wenn er nicht einmal Schottland und Südtirol für vergleichbar hält). Zudem gibt es innerhalb der EU auch recht unterschiedlich gewichtete Ansätze: Inklusivistische Ansätze, wie in Schottland oder Katalonien und wie ihn für Südtirol vertritt oder chauvinistische Ansätze, wie von der Lega Nord im Phantasiegebilde Padanien oder den eher nationalistischen Bestrebungen in Flandern.
Übrigens erstaunlich, dass Pelinka und andere Vertreter des Status Quo den Nationalismus der bestehenden Staaten nicht thematisieren. Es ist ja in keiner Weise so, dass die bestehenden Nationalstaaten ein Hort der Multikulturalität und Mehrsprachigkeit darstellen. Italien ist es gelungen, bis auf Südtirol beinahe alle sprachlichen Minderheiten zu assimilieren.
Die Unabhängigkeitsbewegungen berufen sich auf das Selbstbestimmungsrecht der Völker. Ist das hier passend?
Ich bin überhaupt der Meinung, dass das Recht auf Selbstbestimmung viel mehr Unheil angerichtet hat, als es Vorteile gebracht hat. Das hat man schon 1919 bei der Pariser Friedenskonferenz gesehen, wo Woodrow Wilson als großer Prophet gefeiert wurde. Aber er hat nie genau definiert, für wen das Selbstbestimmungsrecht gilt. Gilt es auch für ein Dorf? Kann dann ein Dorf im Pustertal auch die Selbstbestimmung fordern? Ich glaube es ist auch gar nicht möglich, klar zu definieren für wen das gilt.
Im Falle von Wilson haben die Siegermächte des 1. Weltkrieges die Definition übernommen. Das Selbstbestimmungsrecht wurde immer dann angewandt, wenn es darum ging, die besiegten Mächte zu schwächen. Insofern war es nichts anderes als ein Alibi-Selbstbestimmungsrecht um neue Nationalstaaten zu kreieren oder bestehende zu vergrößern.
In den letzten 70 Jahren hätten wir nun viel Zeit gehabt, das Recht auf Selbstbestimmung zu modernisieren, es von der völkerrechtlichen auf die demokratiepolitische Ebene der Bürgerrechte zu bringen. Aber indem dieses Prinzip auch von Politologen wie Pelinka lächerlich gemacht wird, leidet die Entwicklung der Demokratie, nicht nur die innereuropäische sondern auch in gewaltbeladenen Konfliktzonen. Warum kann sich Putin aufführen, wie vor 100 Jahren? Auch deshalb, da kein glaubwürdiges demokratisches Modell vorgelebt wird, wie der Ukrainekonflikt völlig anders gelöst werden könnte.
Es ist natürlich einfach zu sagen, dass es für Schottland gilt. Das ist relativ klar abgegrenzt, es hat ein gemeinsames historisches Narrativ und die Frage wo Schottland endet, ist außer Streit gestellt. Aber wie wäre es mit dem Selbstbestimmungsrecht Nordirlands? Sollten einmal, durch demographische Entwicklungen, die Katholiken in Nordirland die Mehrheit haben, was so schnell nicht passieren wird, verschiebt sich die Frage Mehrheit-Minderheit ja nur. Haben dann die Protestanten in einem Stadtteil von Belfast auch ein Recht auf Selbstbestimmung? Das Recht auf Selbstbestimmung ist ein Placebo, eine schöne Formel, die vielleicht auch süchtig machen kann, aber keine Lösung.
Vielleicht entwickelt sich etwas Neues, das sich der Vorstellungskraft von Pelinka entzieht. Beispielsweise keine Umkehrung der Mehrheitsverhältnisse, sondern eine neue, gemeinsame Identität. In Nordirland gibt es Tendenzen in diese Richtung. Ein unabhängiges Nordirland wäre für so eine zukunftsweisende Lösung der richtige Rahmen.
Ist das Recht auf Selbstbestimmung in Europa heute noch zeitgemäß?
Nein, als allgemeiner Grundsatz ist es das nicht mehr. Im Einzelfall kann es helfen, Konflikte zu lösen. Als allgemeiner Grundsatz ist es aber nicht geeignet, weil es von der Annahme ausgeht, es sei objektiv klar, was ein Volk ist und das ist ja nicht klar, sondern ein Unfug.
Pelinka redet von Volk wie vor 100 Jahren. Kann er sich nicht vorstellen, dass sich kollektives und individuelles Selbstbestimmungsrecht versöhnen? Dass nicht mehr der völkische Charakter im Zentrum des Selbstbestimmungsrechtes steht, sondern der Aspekt einer selbstbestimmten Bürgerschaft, die unabhängig von Sprache, Religion und Kultur die Rahmenbedingungen für ihre Region bestimmen will? Die Tendenz geht in diese Richtung. Erstaunlich, wie eingeschränkend die Ansätze anerkannter Fachleute teilweise sind.
Ganz abgesehen davon, dass wir aufgrund der multikulturellen Gemengelage in Europa mit diesem Prinzip ja nur Mehrheits- und Minderheitenverhältnisse verschieben. Das war ja das Problem der Friedensordnung nach dem ersten Weltkrieg. Das ist das Problem Südtirols. Man hat unter dem Hinweis auf das Selbstbestimmungsrecht natürlich nur andere und insgesamt vielleicht noch explosivere Minderheitenprobleme geschaffen. Also das Selbstbestimmungsrecht ist aus meiner Sicht vom Grundgedanken her ein gefährlicher Unfug.
Großes Erstaunen darüber, dass Pelinka nicht die wirkliche Ursache der Probleme erkennt, die den 1. Weltkrieg ausgelöst haben und eine unheilvolle Nachkriegsordnung geschaffen haben. Nicht die Selbstbestimmung an sich war und ist das Problem. Das damals sehr unvollständige, da auf den Begriff Volk reduzierte Prinzip war das Problem. Wo landen wir, wenn wir den Begriff Volk definieren? Richtig, beim Nationalismus. Und dieser war und ist das Problem. Der Nationalismus der Siegermächte, die das Prinzip der Selbstbestimmung einseitig zu ihren Gunsten anwandten, der Nationalismus der neuen, jungen Staaten, in denen fortan nur mehr eine Staatssprache zuhause sein durfte und der Nationalismus der besiegten Mächte, die ihre Niederlage nicht verarbeitet haben.
Dieser Nationalismus lebt in entschärfter Form in den heutigen Nationalstaaten weiter. Überwunden ist er nicht. Europas Vielfalt verkörpern nicht die europäischen Nationalstaaten, sondern die Regionen. Die Nationalstaaten waren in den letzten 100 Jahren nie ein besonders komfortabler Hort für Regionen, die sich an den Bruchstellen eben dieser Nationalstaaten befinden.
Dass die nach Unabhängigkeit strebenden Regionen, wie Schottland oder Katalonien, förmlich in den Schoß der EU hineinwachsen möchten und sich zudem nicht nach völkischen Kritierien, sondern nach inklusivistischen, bürgerrechtlichen Kritierien definieren, gibt Hoffnung. Einerseits um den innereuropäischen Nationalismus zu überwinden und andererseits um die Integration der EU auf eine neue, von den heutigen Nationalstaaten losgelöste Ebene zu bringen.
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