Die Sozialgenossenschaft POLITiS und das Südtiroler Bildungszentrum haben während der letzten Monate ein Bildungsprojekt unter dem Titel »Die Reform der Südtirol-Autonomie — Bürgerinnen und Bürger reden mit« umgesetzt, in dessen Rahmen das Anliegen untersucht wurde, »mit mehr Beteiligung und ethnischer Konkordanz zu einer vollständigen Autonomie mit mehr demokratischen Rechten« zu gelangen. Parallel dazu wurde in Zusammenarbeit mit dem Sozialforschungsinstitut Apollis über die Plattform Salto.bz zwischen Dezember 2013 und Februar 2014 eine Online-Umfrage zu den Präferenzen in der Autonomiereform durchgeführt. Obschon die Ergebnisse nicht repräsentativ sind, ist es interessant, die Positionen von immerhin 356 Teilnehmern näher unter die Lupe zu nehmen, gestatten sie doch recht erstaunliche Erkenntnisse. Vorauszuschicken ist, dass sich 86% der Teilnehmerinnen als deutschsprachig, 10% als italienischer Muttersprache und 2% als Ladinerinnen bezeichneten. 81% sind Männer und 19% Frauen, der Bildungsgrad der Teilnehmerinnen ist im Durchschnitt hoch — 51% haben einen Hochschulabschluss, 28% die Matura und 18% ein Fachdiplom.
Schon die erste Frage (Nr. 1.1) ist sehr aufschlussreich: Zum Ausbau der Südtirol-Autonomie gibt es verschiedene Einstellungen. Welche der folgenden Aussagen entspricht am ehesten Ihrer Meinung?
- Ich wünsche mir einen möglichst weitgehenden Ausbau der Autonomie.
- Ein Ausbau ist sinnvoll, aber es braucht nur partielle Verbesserungen.
- Ein Ausbau ist nicht nötig, es reicht der heutige Stand.
- Eigentlich hat das Land Südtirol schon zu viel Autonomie.
- Ein Ausbau ist sinnlos, weil nur Selbstbestimmung die Lösung bringen kann.
Die relative Mehrheit (46%) sprach sich für die Selbstbestimmung (die hier nicht ganz korrekt synonym zur Unabhängigkeit gesetzt wurde) aus, 41% für einen möglichst weitgehenden Ausbau der Autonomie, womit fast 90% der Teilnehmerinnen de facto die Unabhängigkeit vom Staat wünschen. Die starke — wenngleich, man muss es wiederholen, nicht repräsentativ erhobene — Unterstützung für die »Selbstbestimmung« (Antwortmöglichkeit Nr. 5) ist aus mehreren Gründen erstaunlich:
- Zielgruppe der Umfrage waren schon aufgrund des Titels eher die Verfechterinnen der Autonomie, denn genuine Selbstbestimmungsbefürworterinnen.
- Die Plattform Salto.bz, die als wichtigster Ausgangspunkt für die Umfrage diente, ist nicht als Hort von Selbstbestimmungsbefürworterinnen bekannt.
- Die Reihung kann als suggestiv betrachtet werden, da die Antwortmöglichkeiten zunächst von der weitestmöglichen zur geringsten Form des Autonomieausbaus gereiht wurden und erst an letzter Stelle (wider die Logik der restlichen Reihung) die Selbstbestimmung »angeboten« wurde.
- Durch die Formulierung bestand nicht die (legitime) Möglichkeit, die Selbstbestimmung und den Autonomieausbau zu befürworten. Wer sich für die Selbstbestimmung aussprechen wollte, musste gleichzeitig die Sinnlosigkeit des Autonomieausbaus bestätigen.
Die zweite Frage (Nr. 1.2) lautet: Wie kann eine umfassende Autonomiereform (3. Autonomiestatut) Ihrer Meinung nach am besten erreicht werden?
- Mit der bisherigen Strategie der kleinen Schritte mit Vereinbarungen zwischen den Regierungsparteien in Rom und Bozen.
- Durch ein breites Parteienbündnis aller wichtigen politischen Kräfte in Südtirol.
- Durch verstärkten internationalen Druck (Österreich).
- Durch verstärkten Druck von unten (Öffentlichkeit, Bevölkerung, selbstverwaltete Aktionen).
- Anderes …
Auch hier sind die Antworten erstaunlich eindeutig ausgefallen: Fast die Hälfte (48%) der Befragten glaubt, dass der Ausbau der Autonomie (und in Anlehnung an Frage 1 auch die Selbstbestimmung?) durch Druck von unten erreicht werden muss. An zweiter Stelle steht das breite Parteienbündnis (27%), während die »bisherige Strategie« der SVP (10%) nur knapp mehr Zustimmung erntete, als der internationale Druck (9%).
Ganz klar bringen also die Befragten zum Ausdruck, dass eine Stärkung der Eigenregierung von Südtirol selbst und hier wiederum von der Bevölkerung ausgehen muss — und nicht sosehr von den Parteien. Deshalb ist es wohl auch unzulässig, den Wunsch nach mehr Autonomie (oder nach Unabhängigkeit) unmittelbar von den Wahlergebnissen ablesen zu wollen. Falls jedoch die etablierte Politik an der Ausarbeitung der neuen Landesverfassung beteiligt werden soll, so ist klar, dass dies überparteilich geschehen muss und nicht den Regierungsparteien in Rom und Bozen vorbehalten sein darf.
Die dritte Frage (Nr. 1.3) ist inhaltlicher Natur: Wo sehen Sie die Schwerpunkte, bei denen die heutige Autonomie Südtirols am stärksten zu verbessern ist? (Mehrfachnennungen waren erlaubt)
- Bei der möglichst eigenständigen Gestaltung möglichst vieler Kompetenzen.
- Beim möglichst konfliktfreien, harmonischen Zusammenwirken der Sprachgruppen.
- Bei den demokratischen Mitbestimmungsrechten der Bürger und der Autonomie der Gemeinden.
- Bei der Position Südtirols gegenüber der Region und gegenüber dem Zentralstaat.
- Bei den Steuern und Finanzen.
- Anderes.
Die höchste Zustimmung (von 58% der Teilnehmerinnen) erhielt Antwortmöglichkeit Nr. 1, wodurch ein weiteres Mal ein sehr hoher Selbstregierungsanspruch unterstrichen wird. Gleich dahinter (55%) rangiert Antwortmöglichkeit Nr. 3; das heißt, dass die möglichst vielen Zuständigkeiten auch möglichst bürgernahe bzw. durch die Bürgerinnen selbst ausgeübt werden sollen. An dritter Stelle (48%) wurden die »Steuern und Finanzen« genannt. Das Verhältnis zwischen Land und Region/Staat (40%) sowie die Harmonie zwischen den Sprachgruppen (37%) wurden etwas seltener genannt. Ersteres kann darauf zurückzuführen sein, dass Antwortmöglichkeit Nr. 1 bereits eine weitgehende (wenn nicht vollständige) Entflechtung der problematischen Beziehungen zur Folge hätte.
Die vierte Frage (2.1) geht auf das Autonomiekonzept der SVP ein: Die SVP verlangt [die] Vollautonomie und versteht darunter den Übergang aller Kompetenzen, außer den wesentlichen staatlichen Funktionen wie Verteidigung, Außenpolitik, Geldpolitik, Straf- und Zivilrecht. Stimmen Sie dieser Zielsetzung zu?
- ja
- nein, das geht zu weit
- nein, das reicht nicht
Erneut bekräftigten die Teilnehmerinnen ihre großen Erwartungen an ein drittes Autonomiestatut (bzw. an die Unabhängigkeit): An erster Stelle (48%) wurde Antwortmöglichkeit Nr. 3 genannt, nämlich, dass die hier beschriebene, doch sehr weitgehende »Vollautonomie« nicht ausreiche. Eine etwas geringere Zustimmung (44%) erhielt die von der SVP vorgeschlagene Vollautonomie mit Restkompetenzen für den Staat (44%). Nur 8% der Befragten glaubten hingegen, dass die Vollautonomie zu weit gehe. Man kann also behaupten, dass die Vollautonomie (nur) das »Minimum« darstellt, mit dem sich die Umfrageteilnehmerinnen begnügen würden.
Bei den Fragen zum Fortbestand der Region Südtirol-Trentino sprachen sich 61% für eine vollständige Abschaffung der Institution und ihre Ersetzung durch zwei autonome Regionen aus. Immerhin 20% befürworteten eine Aufwertung der heutigen Region, während 17% glauben, sie sollte durch eine »weniger aufwändige gemeinsame Institution« ersetzt werden.
Falls die Region abgeschafft würde, glauben 50%, dass die Zusammenarbeit zwischen Trient und Bozen unter dem Dach der Euregio fortgeführt werden sollte. Nur rund ein Fünftel (21%) war dafür, dass sich Südtirol und das Trentino dann »nur fallweise und bezogen auf einzelne Aufgaben oder Politikfelder« koordinieren sollten, während sich 30% institutionalisierte Koordinierungsorgane mit regelmäßigen Sitzungen vorstellen könnten.
Mit 90% sprachen sich fast alle Teilnehmer dafür aus, dass den Bürgerinnen mehr direkte Mitsprache bei Statutsänderungen eingeräumt werden sollte. In diese Richtung äußerten sie sich auch bezüglich des geplanten Autonomiekonvents, indem sie großmehrheitlich (79%) angaben, dass die Mitglieder des Konvents direkt gewählt werden sollten. Nur 16% befürworteten eine Nominierung durch den Landtag, wie sie derzeit von der SVP bevorzugt wird.
Eine sehr deutliche Mehrheit (76%) der Umfrageteilnehmerinnen war außerdem der Auffassung, dass ein neues Autonomiestatut auch »die Möglichkeit einer Volksabstimmung über die staatliche Zugehörigkeit Südtirols« enthalten sollte.
Betrachtet man die Ergebnisse der Erhebung zusammenfassend, muss man zum Schluss gelangen, dass die TeilnehmerInnen einen sehr hohen Anspruch auf Selbstverwaltung erheben und diese Selbstverwaltung so nahe wie möglich bei den Bürgerinnen selbst angesiedelt wissen möchten. Außerdem sprechen sie sich für eine deutliche Stärkung der Mitbestimmungsmöglichkeiten aus, von denen sie ganz ausdrücklich auch die Bestimmung des institutionellen Rahmens bis hin zur Staatsbildung nicht ausnehmen.
Die Publikation »Mit mehr Demokratie zu mehr Autonomie« mit sämtlichen Ergebnissen der Umfrage — aus denen hier vor allem die Aspekte über die Fortentwicklung des institutionellen Rahmens herausgegriffen wurden — ist direkt über die Sozialgenossenschaft POLITiS erhältlich.
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