Was hat ein Bewohner des Veneto mit einem Sizilianer zu tun? Was sind ihre gemeinsamen nationalen Interessen? Was ist das nationale Interesse der Südtiroler als Passitaliener, das sie von den angeblichen nationalen Interessen der Tiroler im österreichischen Bundesland Tirol unterscheidet? Das europäische Projekt hat gerade am Beispiel Tirol gezeigt, wie absurd dieser Pass-Nationalismus ist und wie die Rekonstruktion von identitätsstiftenden Kulturräumen funktioniert. Nationen funktionieren nicht, das hat sich in der Geschichte erwiesen: Entweder sie brechen auseinander wie Italien, Spanien oder Großbritannien, oder sie verlagern die inneren Konflikte nach außen und begehen die größten Menschheitsverbrechen, die es in der Geschichte je gab. Das hat sich in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts gezeigt, und genau dagegen wurde die europäische Union gegründet.
Wir können Menschen aus dem portugiesischen Alentejo, aus Tirol oder vom Peloponnes nicht mehr auseinanderdividieren, wir können nicht mehr sagen, jeder von ihnen hat andere Ansprüche auf das Leben. Das, was sie gemeinsam haben, muss in einem europäischen Parlament in Rahmenbedingungen und in Recht gegossen werden. Innerhalb dieser Rahmenbedingungen müssen die Menschen die Möglichkeit haben, an ihrem Lebensort gestaltend einzugreifen. Der Lebensort ist nicht die Nation, der Lebensort ist die Stadt beziehungsweise die Region, beispielsweise Tirol.
Ich stelle mir ein Europa der vernetzten Regionen vor, die Regionen sind die politischen Verwaltungseinheiten. Die Region ist der überschaubare Lebensbereich, in dem sich eine gemeinsame Kultur oder Mentalität gebildet hat. Ein Europa der Nationen macht ja Demokratie unmöglich, weil eine große und mächtige Nation in der EU viel mehr durchsetzen kann als eine kleine. Das bedeutet: Rahmenbedingungen, die das gemeinsame Parlament festlegt, und subsidiäre Demokratie in den Regionen.
Robert Menasse im dieswöchigen ff-Interview von Georg Mair, Auszug.
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