Wer die Jahrhunderte vom römischen Bürgerrecht bis zu den Verträgen von Lissabon überfliegt, erkennt, dass der Nationalstaat weder das erste noch das letze Wort der europäischen Geschichte ist. In seiner reinen Form hat es ihn sogar nur eine bemerkenswerte kurze Zeit gegeben, von der Französichen Revolution bis zum Ende des zweiten Weltkriegs, aber selbst in dieser so kurzen Zeit keineswegs überall und unumschränkt. Erst 1870 hatte er nach der Einigung von Italien und Deutschland die Mitte Europas erreicht, erst 1919 gelangte er im Versailler Frieden bis an die russische und türkisch Grenze. Aus Russland wurde sogar erst 1991 annähernd ein Nationalstaat, zum selben Zeitpunkt, als in Jugoslawien ein kleiner Vielvölkerstaat zerfiel. Ob das westeuropäische Modell des Nationalstaats für andere Regionen und Weltteile überhaupt taugt, kann in einer vergleichenden Betrachtung angezweifelt werden.
Wer über die Kompliziertheit der Europäischen Union klagt, kennt die Geschichte nicht. Die Metamorphosen des Kontinents lehren Phantasie für die vielen Möglichkeiten von Kooperation und Autonomie. Und sie zeigen: Die scheinbar einfachen Lösungen waren eigentlich immer die schlechtesten.
Auszug aus Gustav Seibt, Süddeutsche Zeitung vom 8.5.14: »Civis europaeus sum. Vom römischen Reich bis zum Vertrag von Lissabon: Seit zwei Jahrtausenden hat es immer wieder Versuche gegeben, den Kontinent zu einen. Die Nationalstaaten sind weder das erste noch das letzte Wort der europäischen Geschichte.«
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