Das noch junge Jahr wartet mit einigen zukunftsweisenden Terminen auf, die die Entwicklung der europäischen Staatengemeinschaft nachhaltig prägen könnten.
Am 18. September 2014 stimmt Schottland darüber ab, ob es beim Vereinigten Königreich bleiben möchte oder ein unabhängiges Land wird. Für den 9. November 2014 hat Katalonien ein Selbstbestimmungsreferendum angekündigt.
Beide Ereignisse stehen unter unterschiedlichen Vorzeichen. London setzt dadurch demokratiepolitisch Maßstäbe, dass es sich mit Schottland einvernehmlich auf ein Referendum geeinigt hat. Das Resultat wird von London in jedem Falle respektiert. Auch die EU wird sich damit auseinandersetzen müssen und bis dato sakrosankte Dogmen aufbrechen müssen.
Die Katalanen wiederum haben den Termin trotz Widerständen aus Madrid und Brüssel festgesetzt. Der Artikel aus der spanischen Verfassung über die Unantastbarkeit der Grenzen ist für Katalonien kein juristisches sondern ein politisches Problem. Wenn dem demokratischen Willen der Katalanen Rechnung getragen wird, dann können/müssen (in Madrid) Wege gefunden werden, juristische Paragraphen diesen neuen Entwicklungen anzupassen. Gerade auch deshalb sind die Entwicklungen in Katalonien für Südtirol höchst interessant.
Für die EU könnten diese Entwicklungen der Schlüssel zu einer wirklich tiefgreifenden politischen Integration sein, die bis dato allzuoft von kurzsichtigen nationalstaatlichen Egoismen behindert wird.
Burkhard Müller äußert sich am 8.11.2012 in der Süddeutschen Zeitung wie folgt:
Die Unabhängigkeitsbestrebungen bedrohen laut ihm nicht Europa, sondern sind eine Konsequenz der Integration. Konkret: Nicht nur die Vernetzung, auch die Entmachtung und Entmündigung der Staaten ist durch die krisenhaften Vorgänge der vergangenen Jahre so stark vorangetrieben worden, dass die neuen Regionalstaaten nicht so sehr aus ihrem bisherigen Mutterstaat heraus – als vielmehr in den Schoß Europas mit seinen innig verschlungenen Wirtschaftsbeziehungen hineinfallen würden. […] Solch ein Staatenverfall wäre nicht Ausdruck von Desintegration, sondern im Gegenteil als Folge gesteigerter Integration zu werten.
Ähnliche Ansätze lassen sich aus dem bemerkenswerten Beitrag, »Eine Tragödie von Aufstieg und Untergang« von Robert Cooper in der Neuen Zürcher Zeitung vom 16.09.2013 herauslesen. Er vergleicht die Habsurgermonarchie mit der EU:
Beide, Habsburgermonarchie und EU ermöglichen den Kleinen das Überleben, indem sie ihnen Grössenvorteile verschaffen, dies aber in unterschiedlichen Bereichen. Während der fünf Jahrhunderte des Bestehens der Habsburgermonarchie war deren zentraler Beitrag die Sicherheit, die sie gegen Bedrohungen von aussen bot, beginnend beim Osmanischen Reich und dann übergehend auf Nationalstaaten, gegenüber deren destruktiver Dynamik sie weniger erfolgreich war. Dank der Existenz der Nato und dem Ende des Kalten Krieges ist Sicherheit in Europa kein zentrales Thema mehr.
Der sichtbarste «Grössenvorteil» der EU ist stattdessen der Wohlstand, den sie durch ein Europa ohne Grenzen ermöglicht hat; der unsichtbare – und vielleicht noch wichtigere – Vorteil war und ist die Stabilität guter Beziehungen. Diese entstehen durch die gemeinsame Ausarbeitung der Gesetze, die Europa regieren. Die Zusammenarbeit mag in der Praxis ermüdend und zeitraubend sein, doch sie schafft Beziehungen zu den diversen Nachbarn, wie sie kein einzelnes Land jemals zuvor hatte. Die EU war bei der Herstellung eines politischen Ambiente, in dem kleine Staaten bequem leben können, so erfolgreich, dass die Versuchung Flanderns, Schottlands, Kataloniens und anderer, in den Luxus eines eigenen Staates zu kommen, in Zukunft Schule machen dürfte.
Solches stellt keine Überraschung dar, denn kleine Staaten schlagen sich in vielen Belangen besser als grosse. Sie sind heimeliger, bindungsstärker und näher an den Bedürfnissen der Bürger. Nur zwei Dinge machen grosse Staaten wünschenswert: Sicherheit durch eine grosse Armee und Wohlstand durch einen grossen Markt. Die Habsburgermonarchie garantierte Sicherheit, während sie verschiedenen Nationalitäten ein Aufblühen erlaubte; die EU schuf Wohlstand und ermöglicht kleinen Staaten Prosperität und Mitsprache bei der Festlegung der gemeinsamen Regeln.
Der Vergleich Robert Coopers zwischen Habsburgermonarchie und EU wirft unseren Blick auf ein weiteres Großereignis des Neuen Jahres. 2014 jährt sich mit dem Ausbruch des 1. Weltkrieges zum hundertsten Male die europäische Urkatastrophe. Mit ihr versank das alte Europa. Die Habsburgermonarchie verschwand von der Bildfläche.
In einem lesenswerten Interview mit dem Kabarettisten Josef Hader (Süddeutsche Zeitung, 01.01.2014) finden sich zu diesem Thema einige interessante Aussagen:
SZ: Österreich-Ungarn wirkte auf viele so morsch wie Kaiser Franz Joseph greise war. Sind Sie anderer Meinung?
Hader: Es gab Pläne, den Vielvölkerstaat zu einer Föderation umzubauen. Einige Politiker, die nach 1919 an der Spitze ihrer Nationalstaaten standen, sprachen sich vor dem Krieg für eine Eigenstaatlichkeit aus – aber unter dem Mantel der Habsburgermonarchie. Weil die Zugehörgkeit zu einem größeren Staatengebilde für sie ja auch Schutz bedeutet hätte. Ich glaube, erst der Weltkrieg hat die Idee der Monarchie erst richtig ruiniert.
SZ: Die Polen wären immer noch geteilt gewesen zwischen Deutschland, Österreich und Russland. Nach dem Krieg hatten sie endlich wieder ihren Staat.
Hader: Die Polen haben ihren Staat bekommen, und in zwei Kriegen unendlich dafür bezahlt. Und auch alle anderen Staaten auf dem Gebiet der Habsburgermonarchie haben ihre heutige Erscheinungsform mit vielen Millionen Toten bezahlt. Es wäre zynisch zu sagen, dass sich das 20. Jahrhundert für sie so richtig gelohnt hat.
SZ: Inwiefern?
Hader: Wenn wir einmal nicht von Nationalstaaten ausgehen, sondern von der Bevölkerung, hat der Ausgang des Krieges die Zündschnur für Kriege und blutige Konflikte gelegt, die teilweise bis heute andauern. Es gab so viele gemischtsprachige Regionen wie Galizien, Bosnien, Friaul. In solchen Gegenden waren Nationalstaaaten damals schlichtweg nicht sinnvoll. Aus sprachlicher und kultureller Sicht machten die Ländergrenzen nach dem Ersten Weltkrieg gar keinen Sinn. Während des Zweiten Weltkrieges wurde dann die Bevölkerung in Osteuropa so furchtbar effizient ausgerottet und ausgewechselt. Seitdem ist festgelegt, wo welche Sprache wohnen darf. Und jetzt sind wir alle wieder miteinander in Europa – da darf man schon fragen: Wofür war das Ganze?
Fatalerweise ist auch unser Europa ein fragiles Gebilde. Nicht umsonst vergleicht Robert Cooper die EU mit der Habsburgermonarchie. Die EU hat es während ihrer Geschichte immer geschafft Wohlstand zu schaffen. Dies scheint mittlerweile keine Selbstverständlichkeit zu sein. Dazu Cooper:
Wir leben heute in einer Welt unkontrollierter globaler Finanzmärkte, deren Mechanismen wenige begreifen. Und die Krise betrifft das Herz der EU: Wenn die EU aufhört, Wohlstand zu schaffen und gar zu Verarmung führt, wird auch sie zusammenbrechen. Da sie im Gegensatz zur Habsburgermonarchie kein Staat, sondern eine Gemeinschaft von Staaten ist, wird ihr Zusammenbruch nicht im Zentrum beginnen, sondern an den Rändern.
Was Robert Cooper nicht anspricht, aber von Robert Menasse thematisiert wird, ist die mangelnde Fähigkeit der EU-Politik »europäisch« zu handeln. Auf dem Weg von Brüssel in die nationalen Hauptstädte verwandeln sich die Vertreter des EU-Ministerrates in nationale Politiker, die in ihren nationalen Hauptstädten das jeweils für ihr Land erreichte Verhandlungsergebnis hervorheben.
Für Menasse muss etwas Neues entstehen, keine Übernation, sondern ein Kontinent ohne Nationen, eine freie Assoziation von souveränen Regionen.
Dieses neue Europa kann dort seinen Anfang nehmen, wo die vielfach willkürlich und gegen den Willen der Bevölkerungen festgelegten nationalstaatlichen Grenzen nie Sinn machten. Mit europaregionalen Sonntagsreden ist es allerdings nicht getan. Gerade deshalb kommt Regionen, wie Katalonien und Schottland in der europäischen Integration von unabhängigen, freien Regionen eine Schlüsselrolle zu.
Und wie schafft es diese Entwicklung, den für Robert Cooper so wichtigen Wohlstand zu garantieren? Resilienz heißt das Zauberwort. Darunter versteht man die Toleranz eines Systems auf Störungen. Der entfesselte Turbokapitalismus reagiert nicht tolerant auf Störungen. Während der Brixner Nachhaltigkeitstage im Mai 2013 bricht Niko Paech, ein Postwachstumsökonom, eine Lanze für die Regionalisierung Europas. Kleine, überschaubare politische Einheiten lassen sich nicht nur bürgernah und transparent verwalten, in ihnen lassen sich auch volkswirtschaftliche Kreisläufe etablieren, die auf Störungen tolerant reagieren. Das Schuldenproblem einer europäischen Region bringt (anders als jenes großer Nationalstaaten) nicht den gesamten Kontinent an den Rand des Abgrunds.
Die EU bildet die Klammer und garantiert gemeinsame Spielregeln. Die Regionen verwalten im Rahmen der in Brüssel verhandelten Spielregeln, ohne nationalstaatliche Bevormundung, ihr Allgemeinwesen. 2014, 100 Jahre nach der europäischen Urkatastrophe, ausgelöst von nationalstaatlicher Hybris, besteht die Chance die Folgen der beiden europäischen Bürgerkriege nachhaltig zu überwinden.
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