In der heutigen Ausgabe des Wochenmagazins ff, die erfreulicherweise ganz dem Thema Eigenstaatlichkeit gewidmet ist, hätte ein Artikel von Gabriele Di Luca erscheinen sollen, mit dem er — ausgehend vom -Projekt — Perspektiven für ein postethnisches Südtirol aufzeigt.
Unangekündigt hat die Redaktion jedoch darauf verzichtet und stattdessen einen (leider mittelmäßig recherchierten) »Kasten« über die Brennerbasisdemokratie veröffentlicht. Darin werden auch einige Punkte des Manifests zitiert.
Den ursprünglich geplanten Artikel von Gabriele Di Luca veröffentliche ich hier mit freundlicher Genehmigung des Autors in vollem Umfang:
Eine Rochade: Die Italiener und die Selbstbestimmung.
Die Überwindung eines starren Modells. Bis vor wenigen Jahren wäre die Verbindung dieser zwei Begriffe — Italiener und Selbstbestimmung — schlicht undenkbar gewesen. Die Italiener hätten den Kopf geschüttelt, weil sie jeglichen Gedanken daran als unangebracht, störend, gefährlich, kurzum verschwendet empfunden hätten. Gleichzeitig hätten ihre deutschen Mitbürger gebetsmühlenartig wiederholt, die Aufrechterhaltung der Selbstbestimmung als ultima ratio sei doch gerade ein Mittel, den Einfluss der Italiener auf die — als eine Zwischenlösung verstandene — Autonomie zu verhindern oder zumindest zu begrenzen. Diese tiefe Skepsis weist unmittelbar auf die Wurzel des Sprachgruppenkonflikts hin, der durch den institutionellen Rahmen lediglich im Zaum gehalten wird. Um es formelhaft zu beschreiben: In Südtirol ist es gelungen, ein Modell des Zusammenlebens zu etablieren und zu perfektionieren, in dem der jeweils »Andere« notwendig ist; als “notwendiges Übel” jedoch, und nicht als “notwendige Bereicherung”.
Brennerbasisdemokratie. Wollte man im Rahmen der öffentlichen Debatte einen Ort ausfindig machen, wo dieses Paradigma eine radikale Verschiebung erfahren hat, wo Südtiroler aller Sprachgruppen gemeinsam über das Zusammenleben diskutieren, müsste man ein Blog aufsuchen, eine kleine Online-Plattform, die unter www.brennerbasisdemokratie.eu Pionierarbeit leistet. Dort hat eine Personengruppe mit dem gemeinsamen Interesse, neue Formen des Dialogs zu suchen, eine offene Diskussionsgemeinschaft gegründet. Die jeweiligen Nationalismen wurden beiseite geschoben, und stattdessen die Entstehung einer ungeteilten Identität erwogen für deren Bestand der Beitrag sämtlicher Sprachgruppen unentbehrlich ist. Das Projekt der Plattform kreist ausdrücklich um die Schaffung eines unabhängigen und “post-ethnischen” Landes zur Überwindung eines doppelten Engpasses. In der Schachsprache spricht man auch von einer Rochade: Mit einem Spielzug könnte es möglich sein, die heutige Marginalisierung der Italiener zu beenden und die Haltung der Deutschen auszuschalten, Südtirol aus Gründen des Minderheitenschutzes als ihre eigene Angelegenheit zu verstehen.
Gegen die Selbstbestimmung von rechts. Der erfrischende Blickwinkel dieser Plattform wird besonders dann klar, wenn man betrachtet, wie und warum deren Vertreter ihr Projekt von jenem der klassischen Selbstbestimmungsbefürworter abgrenzen, deren Ziel die Loslösung von Italien als Selbstzweck zu sein scheint, ohne einen Gedanken an die kulturellen und sozialen Auswirkungen zu verschwenden. In einem Beitrag mit dem Titel Dreh- und Angelpunkt ist etwa zu lesen: »Die Rechtsparteien, die sich für die Unabhängigkeit dieses Landes stark machen, scheinen nicht verstanden zu haben, dass die Forderung nach Unabhängigkeit nicht ein politisches Thema per se sein kann, sondern nach einem gesamtgesellschaftlichen Projekt verlangt. Nicht nur, dass es sich nicht gegen einen Teil der hier ansässigen Bevölkerung richten kann, es darf auch niemanden ausgrenzen. Gerade die Italiener hier im Lande, bzw. die Gesamtgesellschaft, müssen im Mittelpunkt dieser Entwicklung stehen. Das ist der Dreh- und Angelpunkt der Angelegenheit, kein Detail, das man beiläufig lösen kann. Die Abspaltung vom Nationalstaat Italien kann nur dann glücken, wenn wir dadurch die innere Befriedung erreichen können. Aus diesem Grund ist das Engagement der Rechten für dieses Ziel (so wie sie agieren) nicht nur aussichtslos, sondern auch noch kontraproduktiv. Jeder Ansatz, der ohne die Einbindung eines gesamtgesellschaftlichen Konzeptes auszukommen glaubt, jedes Projekt, das nicht zuallererst auf die Korrektur der bestehenden Schieflage (ein großer Teil der Gesellschaft fühlt sich ausgeschlossen, ja sogar angegriffen) setzt, entfernt uns weiter von dem Ziel, einst in einem befriedeten Land gemeinsam frei über unsere Zukunft befinden zu dürfen. Nicht die Auslöschung eines Unrechts kann man durch die Unabhängigkeit erreichen, sondern etwas völlig Neues …«
Innere und äußere Grenzen. Selbst dann, wenn er auf diese unkonventionelle Art vonstatten geht, erfordert der Umgang mit der Selbstbestimmung eine tiefgreifende Auseinandersetzung mit dem Thema “Grenze”. Gerade Überlegungen zu diesem Thema haben sich die Italiener verständlicherweise stets verschlossen. Doch die Idee, die der Brennerbasisdemokratie zugrundeliegt, bietet auch in dieser Hinsicht einen innovativen Denkansatz: Die Beibehaltung der äußeren, national definierten Grenzen hat in unserem Land zu einer Erstarkung der inneren Grenzen — zwischen den Sprachgruppen — geführt. Um letztere zu überwinden, scheint es von Nutzen zu sein, erstere durchlässiger zu gestalten und neu zu definieren. In einem weiteren Beitrag der Plattform heißt es diesbezüglich: »Ein von den Nationalstaaten unabhängiges Südtirol (…) mit neuen Verwaltungsgrenzen, die sich nicht nach ethnischen und nationalen Grundsätzen richten, würde uns die gemeinsame Suche neuer Lösungen für jene Probleme ermöglichen, die wir nur hier, in einem mehrsprachigen Land, kennen und die weder in Rom noch in Wien verstanden, geschweige denn gelöst werden können. Wir brauchen eine schwache Grenze, durchlässig für den Personen- und Ideenfluss. Gleichzeitig brauchen wir eine EU-Außengrenze, die Schutzsuchenden Sicherheit bietet und jene einlässt, die sich in Schwierigkeiten befinden und, vor allem, eine Überlagerung unterschiedlicher Grenztypen: staatliche, sprachliche, kulturelle und Grenzen der Kooperation, die sich nicht überlappen, sondern den jeweils unterschiedlichen Anforderungen gerecht werden. Eine elastische, unscharfe Auffassung des Grenzbegriffs. Um dieses Ziel zu erreichen, können wir uns nicht auf den Lorbeeren der Autonomie ausruhen oder gar untätig auf das Verschwinden der Grenzen als solche verlassen, was wohl im Laufe der kommenden Jahrhunderte nicht zu erwarten ist. Es wäre wesentlich sinnvoller, uns aktiv an deren Umdeutung zu beteiligen. Südtirol hat das Zeug, an dieser Aufgabe teilzuhaben, die Emanzipation von den Nationalstaaten kann nichts als der erste Schritt in diese Richtung sein.«
Mutige Worte. Das Thema Selbstbestimmung auch den Italienern schmackhaft zu machen war bisher, wie eingangs betont, ein müßiges Unterfangen, das direkt ins Schachmatt führen musste. Doch ist es gleichwohl eine Tatsache, dass bisher niemand versucht hat, die Italiener ernsthaft und positiv in ein derartiges Projekt einzubinden. Sobald dies jedoch der Fall ist, könnte es durchaus zu Überraschungen kommen. Nachdem er jüngst zu einer Podiumsdiskussion mit dem Thema “Freistaat Südtirol” geladen war, hat der Landtagspräsident a. D., Riccardo Dello Sbarba, allseits für seine zurückhaltende und realistische Haltung bekannt, in seinem Blog versucht, einige Bedingungen zusammenzufassen: ”1. L’idea di una regione europea aperta e plurilingue di diverse culture, esperienze, storie tutte dotate di uguale dignità e diritti; 2. La promessa dell’abolizione di ogni logica e misura di separazione etnica: un unico sistema scolastico plurilingue, la fine dei partiti etnici, il principio della cittadinanza universale e uguale; 3. Il riconoscimento di un Heimatrecht uguale per tutte le persone che vivono sul territorio di questo ”Stato liberoâ€; 4. Rinuncia alla violenza e alla glorificazione della violenza; 5. Immediata cessazione di ogni provocazione. La strada per l’autodeterminazione, se questa vuol convincere gli italiani, non può passare per le marce e la richiesta di abbattere i monumenti, ma per il rispetto della storia e dell’esperienza di ciascuno, che va contestualizzata, resa testimonianza di un’educazione alla democrazia, ma non rasa al suoloâ€. Das sind, wie man sieht, sehr mutige Worte, die eine breitere Diskussion verdienen würden. Und vor allem Worte eines “Italieners”, welche schon deshalb die Selbstbestimmung zu einer Gelegenheit machen könnten, alle Sprachgruppen in einen Prozess einzubinden, der nur als Gemeinschaftsprojekt einen Sinn hat.«
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