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Ein modernes »Bürgerrecht«.

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Gastbeitrag für den »Skolast«, Zeitschrift der Südtiroler HochschülerInnenschaft.

Es ist wohl am wahrscheinlichsten, daß diese Menschen in das Gebirge zogen, weil sie das ungewisse Dasein in der Wildnis der Unterjochung durch mächtigere Nachbarn vorzogen. Trotz der Unsicherheit, trotz der Gefahr wählten sie die Freiheit. Ich spiele oft und gerne mit dem Gedanken, daß insbesondere die schweizerische und die Tiroler Tradition der Freiheit bis auf jene Tage der prähistorischen Besiedelung der Schweiz zurückgeht.

— Karl R. Popper in ‘Alles Leben ist Problemlösen’, Piper, München 1994, S. 155

Akte kollektiver Selbstbestimmung, ob gewaltsam oder friedlich, kann man über die Jahrhunderte zurückverfolgen. Nicht selten haben sie, wie die Französische Revolution oder die amerikanische Unabhängigkeitserklärung, zu einem Paradigmenwechsel geführt. Und fast immer widersprachen sie der gültigen Rechtslage.

Auf ein kodifiziertes Selbstbestimmungsrecht musste die Welt hingegen lange warten: Gemeinhin wird seine Entstehung auf US-Präsident Woodrow Wilson zurückgeführt, der Europa nach dem ersten Weltkrieg nicht nur aufgrund von Machtüberlegungen neu geordnet wissen wollte, sondern erstmals auch nach »völkerrechtlichen« und demokratischen Prinzipien. Ein hehres Ziel, das freilich nur ansatzweise verwirklicht werden konnte, zumal etwa Angehörige der besiegten »Nationen« (auch die Südtiroler) erst gar nicht berücksichtigt wurden. Gewährt wurde die Selbstbestimmung nur Völkern, denen die Abspaltung von Deutschland und der Habsburgermonarchie in Aussicht stand. Zudem war die Auffassung dessen, was ein Volk überhaupt sei, dem damaligen Zeitgeist entsprechend stark von der nationalstaatlichen Idee durchdrungen.

Erst nach 1945 führten der erstarkende Druck aus besetzten Weltregionen (so der zivile Widerstand Mahatma Gandhis in Indien) und die Gründung der Vereinten Nationen zu einer substantiellen Fortentwicklung und Konkretisierung des Selbstbestimmungsrechtes. Binnen relativ kurzer Zeit konnte auf seiner Grundlage eine weitgehende Entkolonialisierung der Welt herbeigeführt werden, durch die sich zahlreiche Länder von europäischer Bevormundung und Ausbeutung befreien konnten. In kolonialer Ära festgelegte Grenzziehungen blieben dabei fast immer erhalten.

Anschließend setzte sich aber wieder eine extrem konservative Auslegung des Selbstbestimmungsrechtes durch. Dies kann darauf zurückgeführt werden, dass es stets die etablierte Staatengemeinschaft ist, die das Völkerrecht gestaltet und durchsetzt. Ihrem natürlichen Selbsterhaltungstrieb entspricht es, dass fortan fast nur noch Minderheiten, denen von einem Staat fundamentale Rechte verweigert wurden, ein »Notwehrrecht« auf Sezession zustand.

Doch seit einigen Jahren beginnt sogar die grundsätzliche Auffassung zu bröckeln, dass die Selbstbestimmung nur »Völkern« oder klar definierten Ethnien zusteht. Im Laufe der Geschichte bewegten sich die individuelle und die kollektive Selbstbestimmung, völlig voneinander losgelöst, häufig auf zwei unterschiedlichen Ebenen. Immer wieder standen sie sogar im Widerstreit: Letztere hatte mitunter die Aufgabe der ersteren zur Folge, wo das Wohl des Einzelnen gänzlich jenem der Gemeinschaft untergeordnet wurde.

Im Schoße unserer modernen, liberalen Demokratien bahnt sich ein neuerlicher Wandel des Selbstbestimmungsrechtes an. Massive weltweite Wanderungsbewegungen in nie dagewesenem Ausmaß und ungeahntem Tempo zeigen den Nationalstaaten — bisherige Träger der kollektiven Selbstbestimmung — ihre Grenzen auf. Demokratie und Rechtsstaatlichkeit fördern gleichzeitig den Wunsch nach immer ausgeprägterer individueller (informationeller, gesundheitlicher, sexueller, politischer) Selbstbestimmung, Subsidiarität und Partizipation.

In diesem Kontext kann die kollektive Selbstbestimmung nicht mehr unabhängig von der individuellen Selbstbestimmung — oder gar in Widerspruch dazu — gesehen werden. Als ein »Recht der Völker« scheint sie, wiewohl noch darauf Bezug genommen wird, zunehmend obsolet. Dafür erstarkt besonders in Europa der Wunsch, die kollektive Souveränität als Ergebnis individueller Selbstbestimmung zu verstehen. Nicht mehr (angeblich) unveränderliche oder angeborene Merkmale verleihen einen Rechtstitel auf Eigenregierung; immer mehr sehen es Menschen, die in einem Territorium zusammenleben, hingegen als demokratische Selbstverständlichkeit, in gemeinsamer Ausübung der individuellen Selbstbestimmung auch über die Organisation ihres Zusammenlebens, die Regierungsform und ihre kulturelle Entwicklung völlig frei entscheiden zu dürfen. Als Grenzen ihrer eigenverantwortlichen Entscheidung anerkennen sie in logischer Konsequenz nur die allgemeinen — universellen — Menschenrechte, nicht aber überkommene, als Selbstzweck wahrgenommene Prinzipien wie die Integrität von (National-)Staaten.

Die derzeit laufenden Unabhängigkeitsbestrebungen in Schottland und Katalonien sind hervorragende Beispiele für ein neues Selbstverständnis, das sich aus dem europäischen Friedensprojekt nährt. Äußerst breite Bevölkerungsteile fordern auf Grundlage ihrer demokratischen Mündigkeit, frei über die Zukunft ihres Gemeinwesens entscheiden zu dürfen; und da die Grundrechte weder in Frage stehen, noch wesentlich an die Staatszugehörigkeit geknüpft sind, wird es aus demokratischer Sicht äußerst schwierig sein, den mehrheitlichen Bevölkerungswillen zu ignorieren oder gar mit Verweis auf die Rechtslage zurückzuweisen.

Mitunter wird übrigens argumentiert, neue Staatenbildungen stünden im Widerspruch zum europäischen Einigungsprozess. Doch während sich Schotten und Katalanen ausdrücklich zur EU bekennen, sind es bislang vor allem Brüsseler Institutionen, die den demokratischen Bestrebungen dieser Regionen kalt bis ablehnend gegenüberstehen. Das ist einerseits verständlich, da die EU noch immer stark unter dem Einfluss der Nationalstaaten steht. Doch es ist andererseits auch unklug und wenig mutig: Gerade die — auch materielle — Dekonstruktion der Nationalstaaten stärkt die Bedeutung einer übergeordneten, harmonisierenden Instanz. Burkhard Müller formulierte das in der »Süddeutschen Zeitung« vom 8. November 2012 folgendermaßen:

Die neuen Regionalstaaten [würden] nicht so sehr aus ihrem bisherigen Mutterstaat heraus- – als vielmehr in den Schoß Europas mit seinen innig verschlungenen Wirtschaftsbeziehungen hineinfallen. […] Solch ein Staatenverfall wäre nicht Ausdruck von Desintegration, sondern im Gegenteil als Folge gesteigerter Integration zu werten.

Und dies wiederum wäre ein dringend nötiger Paradigmenwechsel: Die Regionalisierung der EU würde den Einigungsprozess unwiderruflich sanktionieren, während die Umdeutung des kollektiven Selbstbestimmungsrechts von einem »Recht der Völker« in ein demokratisches »Recht selbstbestimmter BürgerInnen« de facto das Ende der nationalen Ära besiegeln könnte, die unserem Kontinent im 19. und 20. Jahrhundert so viel Gewalt beschert hat.

Cëla enghe: 01



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Comentârs

5 responses to “Ein modernes »Bürgerrecht«.”

  1. pérvasion avatar

    Der Skolast (1/2013) wird am 20. Dezember um 18.00 Uhr an der FUB präsentiert. Hier kann er schon vorab durchgeblättert werden, mein Gastbeitrag befindet sich auf Seite 52 f.

  2. @schierhangl avatar
    @schierhangl

    Schlafwandeln wie vor dem 1. Weltkrieg?
    Oder: Europa der Vaterländer oder der Mutterregionen?
    Oder:Den Teufel mit dem Belzebub ausbaden

    Die … Regionalstaaten würden nicht …aus ihrem …Mutterstaat heraus- – als vielmehr in den Schoß Europas mit seinen … Wirtschaftsbeziehungen hineinfallen. […] Solch ein Staatenverfall wäre ….als Folge gesteigerter Integration zu werten.

    Burkhard Müller

    Alles was nach Europa und Regionen klingt wird, in den Zusammenhang mit dem Selbstbestimmungsrecht und dem Sezessionsprozess gebracht und als gut und fortschrittlich eingestuft. Und gleichzeitig wird auf BBD den Grünen die Rute ins Fenster gestellt, weil Sie das Grundprinzip Basisdemokratie nicht einhalten.
    Ist es aber nicht so, dass Demokratie hier nur für das eigene Interesse instrumentalisiert wird? Und ist das nicht wiedermal ein Beispiel dafür wie fragil unsere sogenannte westliche Wertegemeinschaft geworden ist, wie sehr eine Doppelbödigkeit unsere angebliche Überlegenheit durchzieht?

    Es lohnt sich ganz genau hinzuschauen, was die Marktschreier der Demokratie, der Freiheit und des Europas am Bazar anbieten. Denn es wird zwar von Europa gesprochen, in Wahrheit aber versteht man darunter eine Allianz von Vaterländern und eben keine Mutterstaaten oder Mutterregionen, die sich in eine föderale Gemeinschaft zusammenfügen. Jeder versucht in einem nationalen Rahmen seine Felle ins trockene zu bringen, das ist alles andere als eine Wertegemeinschaft. Der Brexit war ja auch nicht eine Abstimmung für eine föderale Region, sondern es war der Abschied von der EU.

    Wer für ein Europa der Regionen einsteht, der strebt einen Prozess an, der mehr Föderalismus für alle (!!!!) Regionen in Europa bringt, der strebt eine solidarische Gemeinschaft an, die neben einer Währungsunion auch eine soziale und politische Union zustande bringt, eine europäische Arbeitslosen-und Gesundheitsversicherung, einen Regionenausgleichsfonds etc. Und vor allem müssen wir über die Probleme der Finanzkrise und des €uro sprechen. Die Ursachen für das Erstarken der Rechten liegen in der falschen Finanzarchitektur des €uro. Der Erfolg der deutschen Wirtschaft, ist begründet in den Schulden der Griechen, der Spanier und der Italiener und gleichzeitig profitiert die deutsche Wirtschaft, von einem relativ günstigen Wechselkurs. Ohne Mario Draghi wäre uns die EU schon längst um die Ohren geflogen. Man stelle sich vor in deutschen Landen gebe es 40% Jugendarbeitslosigkeit.

    Die jungen Menschen sind mit den Vorzügen der Personenfreizügigkeit, des Austauschs über die Grenzen hinweg aufgewachsen; sie kennen die alten Hürden gar nicht mehr und sie wollen auch nicht mehr dahin zurück.

    Wenn man nicht die identitäre Brille anzieht, dann sind es vor allem wirtschaftliche Herausforderungen, die dem Europa der Regionen im Weg stehen. Im folgenden Interview erklärt Staats-und Volkswirtschafter Dieter Ehnts warum esdie europäische Republik braucht und warum wir uns mit J.M.Keynes und Adam Smith befassen sollten:
    https://kenfm.de/dirk-ehnts/

    Demokratie ist nicht ein kurzer Akt, wo mal irgendwas geschieht und dann ist alles anders. Demokratie ist ein langer komplizierter Prozess.
    Autonomie ist nicht die Ausnahme eines falschen Systems, Autonomie ist der demokratische Anker einer Föderation.
    Europa ist weiblich, die Republik ist weiblich und die Regionen sind weiblich. Vive la République européenne!

    1. TirolaBua avatar
      TirolaBua

      Wie kann man bitteschön Demokratie für die eigenen Interessen instrumentalisieren? Erklär mir das mal bitte.

    2. hunter avatar
      hunter

      Ist es aber nicht so, dass Demokratie hier nur für das eigene Interesse instrumentalisiert wird?

      nein

      über nichts anderes, als du hier schreibst schreiben wir seit jahren.
      siehe: http://www.brennerbasisdemokratie.eu/?p=19186

      Manifest für die Begründung einer Europäischen Republik.

      1. @schierhangl avatar
        @schierhangl

        @hunter
        Mir ist klar, dass BBD das Europa der Regionen anstrebt, das auch ich damit meine.
        Aber: Die Selbstbestimmung ist die falsche Antwort auf die richtige Problemstellung.

        Entweder wir schaffen bald multilevel governance in Europa, Arbeitslosen-und Sozialversicherung, Finanzregulierung und Trockenlegen der Steueroasen und eine echte europäische Republik und zwar für alle (!!!) Regionen oder die EU wird untergehen.

        Selbstbestimmungbestrebungen gibt es doch nur weil wir es nicht mehr schaffen in “unten” und “oben” zu denken und an dessen Stelle tritt ein “aussen” und “innen”. Daher wird der politische Alltag der Arbeiterklasse von diesen meines Erachtens nationalen Befreiungsbewegungen dominiert. Wir verabsäumen es die echten Probleme die in Finanz-und Bankensystem liegen anzugehen.
        Gleichheit innerhalb der europäischen Union ist wichtiger als Freiheit.
        Wie sonst will man in Zukunft noch weitere Migrationsströme verhindern, wenn ein Ausgleich nicht mal innerhalb Europas gelingt?

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