Warum sich heute eine europäische Demokratie einem demokratischen Wunsch nicht dauerhaft widersetzen kann: In einem Leitartikel für die wichtigste und auflagenstärkste spanische Tageszeitung El País argumentiert Kolumnist Javier Perez Royo*, dass die Zentralregierung unbedingt mit Katalonien über die Abhaltung eines Unabhängigkeitsreferendums verhandeln müsse. Obschon die spanische — wie die italienische — Verfassung das Prinzip der »nationalen Einheit« enthält, verfüge Katalonien über völlig legale Mittel, die nächsten Jahre in ein permanentes De-facto-Referendum zu verwandeln. Mit möglicherweise fatalen Folgen für die Verfechter der Einheit.
Permanentes Referendum
Sich einer Verhandlung mit dem [katalanischen] Parlament und der Generalitat über eine Volksbefragung zu verweigern ist keine Option
Ist in der Zentralregierung niemandem eingefallen, dass Katalonien das Funktionieren des politischen Systems in Spanien stören kann? Und dass dies auf eine verfassungsmäßig völlig legale Weise, ohne die Notwendigkeit »insurrektionalistischer Vorfälle« […], welche man vor dem Verfassungsgericht anfechten könnte, geschehen kann?
Wenn ich »Katalonien« schreibe, beziehe ich mich auf die außerordentlich breite Mehrheit im [katalanischen] Parlament, welche sich rund um die Forderung nach einem Referendum zum sogenannten »Entscheidungsrecht« (dret a decidir) gebildet hat. Besagte Mehrheit wurde in allen seit Herbst 2010 abgehaltenen Wahlen sichtbar und wächst, wie unterschiedliche Studien aufzeigen, stetig weiter.
Diese Parlamentsmehrheit verfügt, ohne den Rahmen des spanischen Rechts zu verlassen, über Werkzeuge, ihre eigene politische Agenda durchzusetzen und den Kampf um die öffentliche Meinung mit potenziell unumkehrbaren Folgen für die territoriale Integrität des Staates zu gewinnen. Die Weigerung der Zentralregierung, auch nur über die Abhaltung eines Referendums zu verhandeln, wird dazu führen, dass sich das politische Leben in Katalonien für die kommenden zwei Jahre in eine Art permanentes Referendum verwandelt.
Das neulich im Camp Nou über die Bühne gegangene [Unabhängigkeits-]Konzert ist ein gutes Beispiel für das, was uns erwartet. In Kürze wird die Diada [katalanischer Feiertag, Anm.] stattfinden, die dem Modell der beiden vergangenen Jahre [Unabhängigkeitskundgebungen, Anm.] sowie der Proteste gegen das Urteil des Verfassungsgerichts, das Teile des reformierten Autonomiestatuts aufgehoben hatte, folgen wird. Letzteres war der Ausgangspunkt für die derzeitige Entwicklung.
Die beiden kommenden werden entscheidende Jahre sein. In 2014 stoßen die Europawahlen im Mai auf das 300. Jubiläum der Diada [seit der Eroberung Kataloniens durch die Borbonen, Anm.] im September und auf das sieben Tage später stattfindende Unabhängigkeitsreferendum in Schottland. Die Europawahlen werden zu einem Referendum über das Selbstverständnis Kataloniens als Staat der EU werden. Ich glaube nicht, dass man eine gemeinsame Kandidatur aller unabhängigkeitsbefürwortenden Parteien, mit relevanten Persönlichkeiten der katalanischen Gesellschaft als Kandidaten und unter einem einzigen Programmpunkt (»wir sind ein Staat«) ausschließen kann. Obschon das Verfassungsgericht sagt, dass Katalonien keine Nation ist: Hier stehen wir nun. Vor einem derartigen Ansinnen würden die spanischen Parteien, PP und PSC-PSOE, in der Bedeutungslosigkeit versinken. Und unter dem Eindruck eines solchen Wahlergebnisses wäre die 300. Diada ebenfalls referendarischer Natur.
Das Jahr 2015 könnte mit Neuwahlen zum katalanischen Parlament beginnen, bei denen sich die Parteien ein klares und unmissverständliches Mandat einholen, mit der Zentralregierung über die Abhaltung eines Referendums zu verhandeln. Es ist leicht vorhersehbar, dass sich auch in diesem Fall die Marginalisierung von PP und PSC-PSOE fortsetzen würde; die Wähler würden das Mandat mit einer überwältigenden Mehrheit ausstellen. Kann die Zentralregierung unter solchen Umständen den Wunsch [der Katalanen] ignorieren? Falls sie ihn ignorieren würde — hätte jemand einen Zweifel darüber, was bei den Kommunalwahlen im Mai passieren würde? Gibt es einen Zweifel, in welcher Stimmung die Diada 2015, zwei Monate vor den spanischen Parlamentswahlen, stattfinden würde? Könnte man ausschließen, dass jene [spanischen Parlaments-]Wahlen als ein Negativreferendum verstanden werden könnten, als ein Ablehnungsreferendum, bei dem die katalanischen Parteien, die die überwältigende Mehrheit der Katalanen repräsentieren, ihre Kandidatur verweigern würden? Wer hätte das politische System in Spanien unter diesen Vorzeichen noch in der Hand?
Dies ist das Szenario, zu dem uns die Position der Zentralregierung, die Abhaltung eines Referendums zu verweigern, führen wird — besser gesagt: führen könnte. Und keiner der Schritte, die die katalanische Parlamentsmehrheit machen könnte, wäre verfassungswidrig. Im Gegenteil: Alle sind das Ergebnis verfassungsmäßig garantierter Rechte. Somit wäre die Zentralregierung ihres einzigen Werkzeugs, des Verfassungsgerichts, beraubt. Die Ausübung verfassungsmäßiger Rechte würde faktisch die Anwendung der spanischen Verfassung in Katalonien vereiteln, und das alles auf verfassungsmäßig einwandfreie Weise, ohne Anfechtungsmöglichkeit.
Ich will damit sagen, dass die Verweigerung von Verhandlungen mit Regierung und Parlament der Generalitat über die Abhaltung eines Referendums auch für die keine Option ist, die die Einheit des Staates erhalten wollen. Ich hoffe und wünsche, dass es noch nicht zu spät ist, eine Verhandlung anzubahnen. Doch ich habe den Eindruck, dass wir am Limit angelangt sind.
Übersetzung:
*) Javier Perez Royo (Sevilla, Andalusien, 1944) ist Professor für Verfassungsrecht an der Universität Sevilla, deren Rektor er von 1988 bis 1992 war (zeitgleich: Präsident der spanischen Rektorenkonferenz). Doktorat der Rechtswissenschaften der Universität Sevilla, studierte und arbeitete er außerdem an der Universität Tübingen und am Heidelberger Max-Planck-Institut.
Einmal mehr beweist sich, dass das Vorpreschen der Katalanen — im Gegensatz zum von Südtiroler Parteien mehrheitlich propagierte Stillhalten — Fakten schafft, wodurch neue Energien freigesetzt und Akteure auf den Plan gerufen werden, die sich sonst niemals dazu veranlasst sähen. Wenn man ein Ziel nicht verfolgt und dafür nicht einsteht, wird man es auch nicht erreichen.
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