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Zum Thema Freiheit.
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von Karl Popper

Wir wissen nur wenig über die Geschichte der Besiedelung der österreichischen, der schweizerischen und französischen Hochalpen, die ja in prähistorischen Zeiten stattfand. Aber wir dürfen wohl darüber nachdenken, wie es dazu gekommen sein mag, daß Menschen, die Ackerbau und Viehzucht trieben, in die wilden und unwegsamen Täler der Hochalpen zogen, wo sie zunächst bestenfalls ein hartes, karges und gefährdetes Dasein fristen konnten. Es ist wohl am wahrscheinlichsten, daß diese Menschen in das Gebirge zogen, weil sie das ungewisse Dasein in der Wildnis der Unterjochung durch mächtigere Nachbarn vorzogen. Trotz der Unsicherheit, trotz der Gefahr wählten sie die Freiheit. Ich spiele oft und gerne mit dem Gedanken, daß insbesondere die schweizerische und die Tiroler Tradition der Freiheit bis auf jene Tage der prähistorischen Besiedelung der Schweiz zurückgeht.

Es ist jedenfalls interessant und auffallend, daß England und die Schweiz, die beiden ältesten Demokratien des gegenwärtigen Europa, heute einander so ähnlich sind in ihrer Freiheitsliebe und in ihrer Bereitschaft, ihre Freiheit zu verteidigen. Denn in vielen anderen Zügen und insbesondere in ihrem politischen Ursprung sind ja diese beiden Demokratien grundverschieden. Die englische Demokratie verdankt ihre Entstehung dem Stolz und dem Unabhängigkeitssinn des Hochadels und, in ihrer späteren Entwicklung, der protestantischen Denkungsart, dem persönlichen Gewissen und der religiösen Toleranz — Folgen der großen religiösen und politischen Konflikte, die durch die Puritanische Revolution heraufbeschworen wurden. Die Schweizer Demokratie entstand nicht aus dem Stolz, dem Unabhängigkeitssinn und dem Individualismus eines Hochadels, sondern aus dem Stolz, dem Unabhängigkeitssinn und dem Individualismus der Hochgebirgsbauern.

Diese völlig verschiedenen geschichtlichen Anfänge und Traditionen haben zu ganz verschiedenen traditionellen Institutionen und zu ganz verschiedenen traditionellen Wertsystemen geführt. Was ein Schweizer — oder ein Tiroler — vom Leben erwartet oder erhofft, ist, glaube ich, im allgemeinen recht verschieden von dem, was ein Engländer vom Leben erwartet oder erhofft. Die Verschiedenheit dieser Wertsysteme ist wohl zum Teil in der Verschiedenheit der Erziehungssysteme begründet; aber es ist doch sehr interessant, daß die Verschiedenheit der Erziehungssysteme ihrerseits tief in jenen geschichtlichen und sozialen Gegensätzen begründet ist, auf die ich hingewiesen habe. Erziehung war in England bis tief in das [zwanzigste] Jahrhundert hinein ein Privilegium des Adels und des Grundbesitzes — der Squirarchie; also nicht der Stadtbewohner und des Bürgertums, sondern der auf dem Lande lebenden Familien von Großgrundbesitzern. Diese Familien waren die Träger der Kultur; aus ihnen kamen auch die Privatgelehrten und Wissenschaftler (oft einflußreiche und originelle Amateure) und die Mitglieder der höheren Berufe — Politiker, Geistliche, Richter, Offiziere. Im Gegensatz dazu waren die wichtigsten Kulturträger des Kontinents Stadtbewohner; sie kamen zum großen Teil aus dem Stadtbürgertum. Erziehung und Kultur war nicht etwas, das man ererbte; es war etwas, das man sich selbst erarbeitete. Erziehung und Kultur waren kein Symbol einer ererbten sozialen Stellung einer Familie, sondern ein Mittel und ein Symbol des sozialen Aufstiegs, der Selbstbefreiung durch das Wissen. Das erklärt es auch, warum der siegreiche Kampf gegen die Armut in England eine Art Fortsetzung der Religionskämpfe auf einer anderen Ebene war — ein Kampf, in dem der Appell des Adels und des Bürgertums an das religiöse Gewissen eine entscheidende Rolle spielte —, während der Kampf gegen die Armut und das Elend in der Schweiz und auch in Österreich von der Idee der Selbstbefreiung durch das Wissen inspiriert war, von der großen Erziehungsidee Pestalozzis.

Trotz aller dieser tiefliegenden Verschiedenheiten wissen beide, England und die Schweiz, daß es Werte gibt, die um jeden Preis verteidigt werden müssen, und zu diesen Werten gehören vor allem die persönliche Unabhängigkeit, die persönliche Freiheit. Und beide haben gelernt, daß die Freiheit erkämpft werden muß und daß man auch dann für sie einstehen muß, wenn die Wahrscheinlichkeit des Erfolges verschwindend klein zu sein scheint. Als England im Jahre 1940 allein für die Freiheit kämpfte, versprach Churchill den Engländern nicht den Sieg. »Ich kann euch nichts besseres versprechen«, sagte er, »als Blut und Tränen.« Und das waren die Worte, die England den Mut zum Weiterkämpfen gaben.

In der Schweiz war es gleichfalls nur die traditionelle Entschlossenheit zu kämpfen — auch gegen einen zweifellos übermächtigen Gegner, wie es zuerst die Habsburger und später das Dritte Reich war —, die den Schweizern ihre Unabhängigkeit während des Zweiten Weltkriegs bewahrte.

aus: Popper, Karl R., Alles Leben ist Problemlösen, Piper, München 1994, S. 155ff.



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