Der sehr patriotische Teil der Südtiroler Gesellschaft hat sich vor einer Woche in Meran für “mehr Freiheit und Unabhängigkeit” mit Gleichgesinnten getroffen. Zumindest der juristische Weg dorthin scheint eher weit, wenn man bedenkt, wie viel an Souveränitätsrechten Südtiroler Bürger überhaupt haben. Auch wenn 100.000 von ihnen etwas am geltenden Statut ändern möchten, sie könnten es nicht. Nicht einmal der Landtag kann eigenständig in Rom eine Statutenänderung beantragen.
Näher als die Unabhängigkeit liegt der Ausbau der Demokratie im Land. Über die grundlegenden Verfahrensregeln ihres Gemeinwesens selbst abstimmen zu können – das wäre eigentlich ein Grundelement der Souveränität der Bürger einer Demokratie. Insbesondere das Wahlrecht und die direkte Mitentscheidung müssten die Bürger über die Volksinitiative und das bestätigende Referendum selbst regeln können. In den deutschen Bundesländern gehört das Wahlrecht zu den beliebtesten Themen von Volksabstimmungen überhaupt. In Südtirol geht das nicht, eine Volksinitiative zu den sog. Regierungsformgesetzen scheint unzulässig.
Laut SVP schließt der Art. 47 des Autonomiestatuts dieses Recht der Bürger nämlich aus und behält es dem Landtag vor. Die Südtiroler sollen – so ihre restriktive Auslegung – kein Recht auf Volksinitiative zu diesem Thema haben. Nur zum bestätigenden Referendum können wir Bürger greifen, wenn uns ein Wahlgesetz oder Direkte-Demokratie-Gesetz der Landtagsmehrheit nicht passt. Der Art. 47 des Autonomiestatuts ist in dieser Hinsicht unklar: Richtermeinung steht gegen Richtermeinung, Gutachten gegen Gutachten. Deshalb besteht dringender Klärungsbedarf, entweder durch “authentische Interpretation”, also Nachbesserung durch das Parlament, oder eine Neufassung durch das Parlament. Die Südtiroler Vertreter im Parlament sind aufgerufen, diese Klärung rasch herbeizuführen, indem die normalen Mitbestimmungsrechte der Bürger gewahrt werden: also volles Initiativrecht der Südtiroler bei den Regierungsformgesetzen.
Dieser Mangel beim Art. 47, 2 und 3, steht beispielhaft für den generellen Rückstand bei den Mitbestimmungsrechten der Bürger im heutigen Autonomiestatut. Wenn dieses nun reformiert werden soll, dürfen wir als Bewohner dieses Landes in keiner Weise direkt mitbestimmen. Auch wenn 50.000 Unterschriften für eine Änderung des Statuts zusammen kämen, kein Beistrich könnte auf Initiative der Bürger hin geändert werden. Es gibt keine institutionell geregelte, direkte Mitwirkungsmöglichkeit der Bürger am angestrebten Ausbau der Autonomie. An ein Initiativrecht der Bürger hat man in der SVP anscheinend noch nie gedacht. Schlimmer: die SVP hat nicht einmal dem Südtiroler Landtag ein eigenständiges Initiativrecht verschafft. Laut Artikel  (Art. 103, 2 Autonomiestatut) müssen nämlich derartige Motionen ans Parlament auch vom Regionalrat abgesegnet werden. Sperren sich die Trentiner dagegen, ist alles aufs Eis gelegt. Somit können sich weder die Wähler noch die Landtagsabgeordneten direkt ans Parlament in Rom wenden.
Das ist das Gegenteil von Souveränität im Sinne von “Statutshoheit” im Fall einer autonomen Region oder Provinz. Fehlt den Bürgern diese Statutshoheit – im Unterschied zu den Regionen mit Normalstatut Italiens und zu den meisten autonomen Regionen Europas, die mit Bürgerbeteiligung ihre Statuten reformieren können – dann bleibt jede Reform dem engsten Kreis von Spezialisten der Regierungsparteien anvertraut, ohne Transparenz, mit weit weniger Legitimation, mit sehr mangelhafter demokratischer Rückbindung. Mit anderen Worten: wir Südtiroler sind nicht Subjekt eines souveränen Landes, sondern stehen irgendwie unter Kuratel, während die Erweiterung der Demokratie und Autonomie nach Gutdünken von oben bestimmt oder unterlassen wird.
Aus der Sicht der Bürger bedeutet dieser Umstand vor allem eines: der angepeilten Reform der Südtirol-Autonomie müsste eigentlich eine Änderung des Verfahrens zu ihrer Abänderung vorausgehen, um die Beteiligung aller politischen Kräfte und der Bürgerschaft zu erlauben. Dabei könnte man eine Minimalversion und eine Optimalversion unterscheiden. Ein Mindestmaß demokratischer Mitbestimmung wäre ein Initiativrecht für eine Mindestanzahl von Südtiroler Wahlberechtigten in Form des Volksbegehrens und der Volksinitiative (“Statutsinitiative” statt Verfassungsinitiative). Der Landtag müsste eigenständig, also ohne Trient, Motionen ans Parlament richten können, andererseits auch ein wichtiges Abwehrrecht erhalten: einseitige Abänderungen des Statuts durch das Parlament sollten durch eine 2/3-Mehrheit des Landtags abgelehnt werden können. Dies hat auch die SVP verlangt, aber nicht durchsetzen können.
Die Optimalversion begreift die Südtiroler Bürger dagegen als eigentliches souveränes Subjekt der Landesautonomie und ihrer Verfassung. Sie müssten das Recht erhalten, einen Statutenkonvent, also eine “verfassunggebende Landesversammlung”, frei zu wählen. Zumindest müsste der Landtag ein “verfassunggebendes Mandat” erhalten können, wie andere autonome Regionen Europas. Abänderungen oder Gesamtrevisionen des Landesstatuts, die von den politischen Organen ausgehen, müssen einem bestätigenden Referendum durch die Wählerschaft unterworfen werden können (wie in den Autonomen Gemeinschaften Spaniens), weil erst dadurch die unmittelbare politische Legitimation erfolgt. Natürlich braucht es für ein runderneuertes Autonomiestatut auch das Plazet des Parlaments, andernfalls könnte es nicht Teil der Verfassung werden. Wenn wir die Südtiroler Bürger und Bürgerinnen aller Sprachgruppen als politisches Subjekt begreifen, könnten Verbesserungen am Autonomiestatut auch gemeinsam von unten angegangen werden, nicht nur in blindem Vertrauen in die Weisheit der Parteispitzen in Bozen und Rom.
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