Zwei Koryphäen der Südtiroler Schreibergilde beschäftigten sich vergangene Woche mit dem Phänomen “System Südtirol” – sofern es ein solches überhaupt gibt und was auch immer man darunter versteht. Ulrich Ladurner, seines Zeichens Zeit-Redakteur, beobachtet innerhalb eines ausführlichen Berichts zum “Land der Zukunft” in der ff die “Südtiroler Normalisierung”. Hans Karl Peterlini wiederum verortet in der tt das “Paradies im Sündenfall”.
Abgesehen vom etwas pathetisch-apokalyptischen Einstieg
Das Land, wo Milch und Lire flossen und das Edelweiß üppig spross, erlebt einen regionalen Weltuntergang: Nachrichten von der Implosion des Erfolgsmodells Südtirol.
besticht Peterlinis Analyse neben der sprachlichen Brillanz durch schlüssig-ausgewogene Argumentation. Fein säuberlich entwirrt er das Netz aus Günstlingswirtschaft, Alleinvertretungsanspruch und daraus resultierender Selbstgefälligkeit. Das Resultat ist eine Elite, die quasi institutionell und systematisch gegen demokratische Grundprinzipien – allen voran die Gewaltenteilung – verstößt. Die Kontrollierten kontrollieren sich selbst. Die “vierte Gewalt” sitzt mit im Boot. Kritikfähigkeit ist ein Fremdwort. Die Politik ist zudem eng mit der verbeamteten Verwaltung verwoben bzw. spielt diese gleich selbst.
Den Versuch einer Antwort auf die Frage, wie es zu dieser Machtkonzentration kommen konnte, startet Peterlini erst gar nicht. Er verzichtet daher auch explizit darauf, die Missstände zu einem Alleinstellungs- und Wesensmerkmal Südtirols bzw. der Südtiroler zu machen. Er trennt individuelle Verantwortung von kollektivem gesellschaftlichen Versagen. Das sei ihm hoch angerechnet.
Es soll also Ladurners Aufgabe sein, im Verein mit der ff-Redaktion den skurrilen “Autorassismus” unverhohlen zu pflegen. Obschon im Titel von “Normalisierung” die Rede ist, verläuft die Schlussfolgerung entlang jener Bahnen, die man in Südtirol anscheinend immer dann befährt, wenn man argumentativ nicht mehr weiter weiß, die dem Autor in bestimmten Kreisen aber kurioserweise gleichzeitig ein gerüttelt Maß an “Weltoffenheit”, “Toleranz” und “Überlegen- bzw. Überlegtheit” bescheren. Die Widersprüche der eigenen Rede werden geflissentlich ignoriert – oder schlimmer noch – gar nicht erst erkannt.
Wenn Ladurner schreibt
Die Südtiroler erschaffen in der Abgrenzung ihre Identität. Erst der Feind gibt ihnen die Möglichkeit, zu wissen, wer sie sind. Er ist der Spiegel, in dem sie sich erkennen. Ohne ihn wären sie orientierungslos und verloren.
dann trifft das wohl auch auf ihn selbst zu, wo er sich doch am Feindbild “Hinterwäldlerischer Südtiroler” seit längerer Zeit gütlich tut (vergl. “ironischer” Kommentar zum Bärenunfall). Obschon es richtig ist, dass sich die Autonomie – durch die Zugehörigkeit Südtirols zu einem Nationalstaat bedingt, wohlgemerkt – über das “Anderssein” legitimiert bzw. legitimieren muss. Gleichzeitig verkennt Ladurner aber, dass “Weltoffenheit” weltweit wohl eher die Ausnahme denn die Regel ist und Attribute wie Toleranz und Offenheit bzw. Engstirnigkeit und Chauvinismus sich nicht an Landesgrenzen halten oder gar festmachen lassen, sondern jede Gesellschaft wie das Nahtl einen Rindsbraten durchziehen. Um jedoch die generelle Zurückgeblieben- und Verdorbenheit der Südtiroler zu untermauern, schreckt man vor keiner noch so grotesken Pauschalisierung zurück. Anders gesagt: Man erhebt das Defizit zum Wesens- und Alleinstellungsmerkmal und würzt das Ganze mit Übertreibung.
Denn die Südtiroler erleben jetzt, was geschieht, wenn sie wirklich unter sich sind: Sie versinken im Sumpf der Korruption. […] Die SVP hat dieses Land bis aufs Mark verdorben. Das ist ihre historische Schuld. […] Die Südtiroler sind die größten Feinde der Südtiroler, weil sie es verlernt haben, sich auf angemessene Weise mit der Welt zu verbinden. Sie verstehen sich nicht als Bürger dieser Welt, sondern als räuberische Piraten.
Angesichts dieser Horrorfigur von Gesellschaft muss doch der von der ff unter anderem als Zukunftslösung vorgeschlagene Ausbau der Bürgerbeteiligung – die direkte Demokratie – eine Schreckensvision sein.
Die Bildunterschrift zu einer Aufnahme aus dem muslimischen Gebetsraum in der Bozner Schlachthofstraße liest sich passend dazu folgendermaßen:
Was für ein Bild haben wir von Einwanderern? Anderswo fragt man die Menschen: Wer bist du, woher kommst du, was bringst du Neues mit, wir leben in Angst vor dem Fremden.
Wiederum wird Xenophobie als Alleinstellungs- und Wesensmerkmal Südtirols suggeriert. Freilich gibt es Xenophobie in diesem Land, die aufs Vehementeste bekämpft gehört. Derartige Pauschalverurteilungen sind jedoch so falsch wie kontraproduktiv und im Kern paradoxerweise rassistisch. Der Vergleich mit Kanada – darauf spielt das “anderswo” an – hinkt auch gehörig. Eine umfassende Analyse der Einwanderungssituation würde den Rahmen sprengen – nur so viel:
Es stimmt, dass Kanada die höchste Einwanderungsrate aller Länder hat. Es hat aber auch eine der niedrigsten Bevölkerungsdichten. Die Regeln zur Einwanderung sind zudem sehr selektiv. Willkommen ist, wer gebraucht wird. Abgesehen von Familienzusammenführungen und Asylwerbern müssen Einwanderer vor der Einreise genügend Geldreserven (ca. € 9.000) nachweisen können und entweder bereits über einen fixen Arbeitgeber in Kanada verfügen oder einer von 29 dringend gebrauchten Berufsgruppen angehören. Die geographische Lage bewirkt überdies, dass es keine leicht befahrbaren Zuwanderungswege gibt. Kanada grenzt bekanntlich nur an ein Land, welches ebenso eine selektive Einwanderungspolitik betreibt. Die tragischen Vorfälle im Mittelmeer zeigen, dass selbst die vergleichsweise kurze Überfahrt von Afrika nach Europa ein lebensgefährliches Unterfangen ist. Der Atlantik und Pazifik sind für “Glücksritter” unüberwindbare Barrieren.
Jedenfalls scheinen manche Kommentatoren Angesichts der Turbulenzen den Durchblick zu verlieren. Reaktionen auf den SEL-Skandal tendieren zur Überproportionierung von Relevanz wie wir sie sonst bislang nur von SVP-Vertretern kannten, wenn es um neue “Errungenschaften” ging. Schlussfolgerungen und Lösungsvorschläge folgen hingegen alt-eingefahrenen Denkmustern und bedienen sich billiger Allgemeinplätze.
Vorausgeschickt, dass mir persönlich die Vision einer Energieversorgung in öffentlicher Hand durchaus erstrebenswert erscheint (Stichwort Kalifornien), so ist die Vorgehensweise bei der Konzessionsvergabe dennoch durch nichts zu rechtfertigen und die involvierten Personen gehören strafrechtlich verfolgt. Die Conclusio, dass ein veritabler Skandal in so vielen Jahren “Alleinherrschaft” (so weit, zu behaupten, dass der LH in seiner Allmacht auch noch die italienische Justiz kontrolliert, ging nicht einmal die ff) ein ganzes Land bis aufs Mark verdorben habe, ist mir dann doch ein wenig zu keck.
Noch kecker finde ich aber, dass bei den 25 Zukunftslösungen für unser Land die Selbstbestimmung komplett ausgespart wurde. Da echauffiert man sich seitenweise über das “System Südtirol”, will aber gleichzeitig nicht wahrhaben, dass einer der Hauptgründe, warum eine derartige demokratiepolitische Anomalie gedeihen konnte, die Zugehörigkeit zu Italien ist. Ursachenforschung statt Symptombekämpfung hieße das Gebot der Stunde. Das heißt selbstverständlich nicht, dass Italien Schuld am SEL-Skandal hat. Es ist vielmehr in seinem Selbstverständnis als Nationalstaat – wie im übrigen alle anderen Nationalstaaten auch – der ideale Nährboden für – im übertragenen Sinne – “geschlossene Gesellschaften” in Minderheitengebieten.
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