Die Zeit Nr. 28, vom 5. Juli 2012, analysiert im Artikel “Gefährliches Schweigen – Eine sozialpolitische Erklärung für das Debakel bei der Euro-Rettung” (S. 29) ein hochinteressantes Phänomen. Ausgangspunkt der Analyse ist das Schweigen des Harvard-Professors und Historikers Arthur Schlesinger jr. bei der entscheidenden Sitzung als die Kuba-Invasion geplant wurde. Schlesinger hat nicht widersprochen, deshalb plagten ihn schwere Selbstzweifel.
Wie konnte das nur passieren? Schlesinger rechtfertigte sein Schweigen im Kabinettssaal: “Widerspruch hätte wenig mehr bewirkt, als mir den Ruf einer Nervensäge einzubringen”. Der amerikanische Sozialpsychologe Irving Janis hat analysiert, wie außenpolitische Katastrophen der USA zustande kamen. Er fand immer wiederkehrende Verhaltensmuster der Entscheider, die ihnen den Blick auf die Realität verbogen. Eines davon lautet: Wer fürchtet, vom Kollektiv in die Ecke gestellt zu werden schweigt lieber. Wer schweigt, hat in der Wahrnehmung des Kollektivs aber zugestimmt. Gruppendenken (groupthink) nannte er seine Theorie des selbstgewissen Scheiterns, von vielen auch salopp “Schweinebucht-Syndrom” getauft.
Es ist nicht Inhalt dieses Beitrages, der Frage nachzugehen, ob in der Eurorettung Ähnliches abläuft. Vielmehr gilt es der Frage nachzugehen, ob wir in Südtirol im Zusammenhang mit der Diskussion um die Unabhängigkeit von einem ähnlichen Syndrom geleitet werden. Die Mehrheitspartei, aber in letzter Zeit auch sehr häufig sogenannte “Autonomie-Patrioten” und die Mainstream-Medien ersticken ja alle Diskussionen über Alternativen zum derzeitigen Autonomiekurs im Keim. Unschwer lassen sich ähnliche Vorgangsweisen, wie im Artikel von Hennerkes erkennen.
- Potentielle Abweichler werden wieder auf Kurs gebracht. Unbedingte Loyalität wird eingefordert. Parteien verfügen hier über ein großes Repertoire, Druck auszuüben. Die eigene Karriere setzen dann Mitglieder der Gruppe nicht in Frage, besonders wenn es sich um finanziell nicht völlig unabhängige Mitglieder handelt. Wer verliert schon gerne einen gut bezahlten Job?
Auch im vorpolitischen Bereich lässt sich dieses Phänomen beobachten: Ein allzu unabhängigkeitsfreundlicher Artikel wurde in der Wirtschaftszeitung vor einem Jahr schnell wieder vom Netz genommen. Und im Falle von linksliberalen Kreisen kommt in Südtirol häufig ein psychologisches Moment dazu, da das Thema traditionell von Rechtsparteien besetzt wird. Ökosoziale UnabhängigkeitsbefürworterInnen dürften aus Angst vor moralischer Ächtung ein Outing vermeiden bzw. lange vermieden haben. - Und damit wären wir schon bei einem der effektivsten Mittel, das Hennerkes beschreibt, um Abweichler auf Kurs zu bringen: Der Gruppenglaube an die eigene moralische Überlegenheit. Wenn die Argumente brüchig werden und von der Realität überholt werden, dann schlägt die Stunde der Moral. Wer für die Unabhängigkeit ist, ist für einen Krieg, zumindest aber ein Zündler. Unabhängigkeit bedeutet raus aus der EU. Unabhängigkeit wird mit Einsprachigkeit gleichgesetzt oder mit Einigelung. Eine Loslösung von Italien ist utopisch, niemand würde Südtirol unterstützen. Die Unabhängigkeit führt in die Kleinstaaterei. Innerhalb der EU gibt es eh keine Grenzen mehr, warum neue aufbauen? Die Liste ließe sich fortsetzen, die wenigen Beispiele zeigen die Fallhöhe.
Jedenfalls ist es aus rationellen Gründen nicht mehr erklärbar, dass nicht längst auch innerhalb der Mehrheitspartei, einflussreichen Verbänden und Organisationen, also den eigentlichen Machtzentren Südtirols, eine ergebnisoffene Diskussion über die Zukunft des Landes, einschließlich der Option auf Unabhängigkeit, geführt wird.
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