Was geschieht mit der EU-Mitgliedschaft eines Teilgebiets der EU, das per Volksentscheid beschließt, aus dem derzeitigen Mitgliedsstaat auszuscheiden und einen neuen Staat zu gründen? Diese Frage werden sich die Schotten vor dem Unabhängigkeitsreferendum 2014 stellen, vielleicht in Zukunft die Flamen, sehr konkret auch die Katalanen. Nicht hingegen in Grönland, das mittelfristig die Unabhängigkeit anpeilt, aber schon 1979 per Volksabstimmung aus der EU — nicht aus Dänemark — ausgetreten ist. Sie kam aber auch vor einigen Monaten in Südtirol zur Sprache, als die Freiheitlichen ihr Freistaatsmodell samt Verfassung vorstellten. In Art. 11 dieses Entwurfs von Prof. Pernthaler gehen die Freiheitlichen davon aus, dass ein Freistaat die EU-Mitgliedschaft verlöre. SVP-Abg. Zeller kritisierte unter anderem diesen Umstand, der rechtlich gar nicht geklärt ist, mit der gravierenden Folge, dass ein unabhängiger Freistaat Südtirol wieder Jahre auf der Bank der Kandidaten mit Beitrittsverhandlungen verbringen müsste. Dabei hätte es auch die Frage des eventuellen Widerstands des “alten” Mitgliedsstaates Italien zu lösen, das nach geltenden EU-Verträgen ein Veto einlegen könnte.
Katalanische Unabhängigkeitsbefürworter haben die Frage als erste aufgegriffen. Am 1. April 2012 hat “Reagrupament Independentista” als erste Kraft überhaupt in Brüssel eine Europäische Bürgerinitiative vorgelegt. Damit soll die Souveränität der Bürger eines neu gegründeten Staats innerhalb der EU gewährleistet werden, wenn sich ein Gebiet mit demokratischem Verfahren von einem bestehenden EU-Mitgliedsland loslöst. Joan Carretero, Präsident dieser katalanischen Unabhängigkeitskraft, legte diese EBI zusammen mit sechs Promotoren aus 6 weiteren Mitgliedsländern vor: aus Luxemburg, Frankreich, Deutschland, Großbritannien, Finnland und den Niederlanden. Binnen Mai muss die EU-Kommission entscheiden, ob eine derartige EBI zulässig ist. Wenn ja, braucht es eine Million Unterschriften von EU-Bürgern innerhalb eines Jahres, die auch elektronisch gesammelt werden können. Die Unterschriften müssen zu einem festgeschriebenen Mindestmaß aus mindestens 7 Mitgliedsländern stammen. Wäre ein italienischer Staatsbürger Mitpromotor dieser EBI, müssten beispielsweise in Italien 56.000 Unterschriften gesammelt werden, etwa gleichviel wie derzeit für ein nationales Volksbegehren.
Die EU-Kommission würde dann aufgerufen, die Voraussetzungen dafür zu schaffen, dass einem aus Sezession entstehendem neuen Staat automatisch die EU-Mitgliedschaft erhalten bleibt. Die Achtung der Souveränität der Bürger wäre damit deshalb geachtet, weil die Bürger vermittelt oder direkt für eine Mitgliedschaft ihrer Region bei der EU gestimmt haben und mit der Sezession nur vom Mitgliedsstaat ausscheiden wollen.
Allerdings kann mit einer EBI keine Änderung am EU-Vertrag bewirkt werden. Die EBI ist weder eine echte Volksinitiative (mit nachfolgender Volksabstimmung, in diesem Fall EU-weit), noch eine Verfassungsinitiative (in diesem Fall eine “EU-Vertragsinitiative”). Sie ist zwar das erste transnationale Beteiligungsinstrument von Bürgern eines supranationalen Staatenbundes, aber doch nur ein Volksbegehren, das die EU-Kommission begründet ablehnen kann. Sie würde vermutlich auf den Art. 3a, P.2, verweisen, der da lautet: “Die Union achtet die Gleichheit der Mitgliedstaaten vor den Verträgen und ihre jeweilige nationale Identität, die in ihren grundlegenden politischen und verfassungsmäßigen Strukturen einschließlich der regionalen und lokalen Selbstverwaltung zum Ausdruck kommt. Sie achtet die grundlegenden Funktionen des Staates, insbesondere die Wahrung der territorialen Unversehrtheit….”. Zumindest wird es durch diese EBI zu einer rechtlichen Klärung der Zuständigkeit kommen. Unabhängigkeitsbewegungen werden gut beraten sein, in Volksabstimmungen gleichzeitig mit der Sezession auch das künftige Verhältnis zur EU aufzurollen.
Cëla enghe: 01
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