Autorinnen und Gastbeiträge →

  • Warum keine Landespolizei?

    Die Carabinieri haben einen Wettbewerb für 25 Stellen ausgeschrieben. Voraussetzung ist der Zweisprachigkeitsnachweis C oder schon als Freiwilliger bei den Streitkräften gedient zu haben. Sonderlich wichtig scheint das Kriterium der Zweisprachigkeit also nicht zu sein, auch wenn General Georg Baron di Pauli das Ziel formulierte, dass in jeder Carabinieri-Station zumindest eine Person in der Lage sein sollte ein Protokoll auf Deutsch zu verfassen.

    Wie würde die Öffentlichkeit reagieren, wenn man in Südtirols Gemeinden das Ziel formulieren müsste, dass in jeder Gemeinde zumindest eine Person in der Lage sein muss, eine E-Mail auf Italienisch zu schreiben?

    Akzeptable Kenntnisse der Landessprachen sollten für Angehörige der Polizeikräfte nicht zuviel verlangt sein. Michael Eschgfäller sieht dies augenscheinlich anders. In Vorausgeschickt der Dolomiten vom 15.04.2015 macht er sich über einen Beschlussantrag der STF im Südtiroler Landtag lustig.

    Natürlich perfekt zweisprachig und mit den kulturellen und historischen Gegebenheiten Südtirols vertraut müssen die uniformierten Landesbeamten sein. Dies ist bei der Verbrecherjagd garantiert das Um und Auf. Und natürlich sollen diese Landespolizisten über jede ihrer Emittlungen der Öffentlichkeit Rechenschaft ablegen. Zusammen mit Staatspolizei, Forstpolizei, Gefängnispolizei, Carabinieri und Finanzwache würde diese Landespolizei bei den Sicherheitskräften das halbe Dutzend voll machen.

    An und für sich sollte es ja selbstverständlich sein, dass die Landesprachen beherrscht werden und Polizeieinheiten im Kontext des Rechtsstaates und der Gewaltenteilung einem Organ des Landes Rechenschaft über ihre Tätigkeit ablegen müssen.
    Nicht in Südtirol. Die politische Mehrheit gibt sich damit zufrieden, dass der »Quästor« als verlängerter Arm des Zentralstaates über die Sicherheit wacht. Die gewählten Organe des Landes haben diesbezüglich wenig Kompetenzen.

    Auf die Idee, dass eine Landespolizei etliche Korps ersetzen könnte, kommt Eschgfäller nicht.

    Laut Rai Südtirol vom 16.04.2015 ist für Landeshauptmann Kompatscher die Landespolizei ein langfristiges Ziel im Rahmen der Vollautonomie. Die Betonung liegt auf »langfristig« im Sinne des Ökonomen John Maynard Keynes: In the long run we are all dead. — »Langfristig gesehen sind wir alle tot.«

    In der Formulierung abstrakter Ziele, die keinerlei Bezug mit den aktuellen politischen Prämissen haben, verfügt die SVP über große Erfahrung. Das Selbstbestimmungsrecht ist Teil der Statuten, ebenso wie die Vollautonomie immer wieder zum Ziel ausgerufen wird und neuerdings die europäische Ebene der Autonomie im Rahmen der Europaregion beschworen wird. Konkrete politische Ergebnisse ergeben sich aus diesen Floskeln keine.

    Während die SVP zumindest verbal am Ziel einer Landespolizei festhält, spricht sich Hans Heiss laut Landespresseamt (15.04.2015) dagegen aus:

    In Südtirol sei die Polizeipräsenz sehr hoch, höher als im italienischen Schnitt. Eine Landespolizei sei keine besonders gute Lösung, es käme ein weiteres Polizeikorps dazu und die Landespräsenz würde sich auf einen weiteren Lebensbereich ausdehnen. Auch eine zu große Vertrautheit mit den Verhältnissen vor Ort sei zu bedenken. Stattdessen sei bei der Zweisprachigkeit nachzubessern und auch bei der Koordination.

    Abermals zeigt ein Vertreter der Grünen was er von neuen Zuständigkeiten hält: Nichts! Laut dem Politologen Pallaver, der aufgrund wohl nur ihm nachvollziehbarer Kriterien die Parteien in autonomiefreundlich und autonomiefeindlich einordnet, zählen die Grünen, die gegen diesen Antrag gestimmt haben als autonomiefreundlich, die STF, die den Antrag eingebracht hat, als autonomiefeindlich.
    Nun, für unsere Autonomiefreunde von den Grünen wäre es also schlimm, wenn die Landespräsenz auf einen weiteren Lebensbereich ausgedehnt würde. Lieber lässt man sich von Rom verwalten. Sollte die große Vertrautheit vor Ort tatsächlich ein Problem darstellen, dann wären Länder wie Island, Malta, Zypern, Luxemburg, Estland, mit einer Bevölkerung zwischen 300.000 und 1,3 Millionen EinwohnerInnen allesamt nicht in der Lage, eine seriöse Polizei aufzubauen.
    Mit denselben Argumenten könnte man auch den Landtag in Frage stellen. Warum nicht auch diese Kompetenzen nach Rom verlagern, da ja auch hier die »Gefahr« einer zu großen Nähe zwischen Landesverwaltung und Bevölkerung besteht?

    Von einem konsequenten und engagierten Ausbau unserer sogenannten Vorzeigeautonomie sind wir jedenfalls weit entfernt. Wirklich wichtige Zuständigkeiten stehen nicht auf der Agenda und die Autonomiepartei SVP handelt völlig losgelöst von belastbaren Zeitplänen. Jeder Geschäftsplan müsste verworfen oder hinterfragt werden, wenn er nicht klare Fristen zur Umsetzung gesetzter Ziele enthält.

    Siehe auch: 01 02 03 04 || 01



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  • Hausärztinnen gegen nationale Bevormundung.

    In einem Schreiben der Vinschger Hausärztinnen an Landesregierung und Südtiroler Patientinnen wird eine Bestreikung der Wochenenddienste ab 01.06.2015 angekündigt. Neben der ausufernden Bürokratie und einem Mangel an Jungärztinnen (»70% der Kollegen nähern sich dem Pensionsalter«) wird vor allem die einseitige Aufkündigung des Landesvertrages für die Hausärztinnen und die Anwendung des nationalen Kollektivvertrags bemängelt.

    Die Einführung des italienischen Betreuungsmodells bringt unmögliche bürokratische Hürden, eine Schwächung des Territoriums und eine totale Zentralisierung der Betreuung mit sich. Vor allem verlieren Jungärzte Interesse in die Allgemeinmedizin in Südtirol einzusteigen. Der große Verlierer ist aber das Land, welches ein weiteres Stück seiner Autonomie aufgibt.

    Zudem wird die gesamtstaatliche Vernetzung kritisiert:

    Durch die Vernetzung, welche seit Jahren als das alle Probleme lösende Allheilmittel an die große Glocke gehängt wird (nur weil es dafür eine Finanzierung aus Brüssel gibt), will man alle Praxen mit einem zentralen Server verbinden, über welchen alle Daten der Patienten nach Rom weitergeleitet werden. Ist der Südtiroler überhaupt darüber informiert, dass schon bald, alles was sein Vertrauensarzt von ihm weiß, an einen staatlichen Server gesendet wird?
    Das neue italienisch Gesetz, die Legge Balduzzi, ist eine juristische Fehlgeburt, die sich mit der Südtiroler Realität nicht vereinbaren lässt. Es wird unser gut funktionierendes und spesenschonendes System in Südtirol innerhalb kurzer Zeit zerstören.

    Ich frage mich, welche Totgeburt das wieder einmal wird. Wie schaut es mit dem Datenschutz aus? Wo bleibt wieder einmal unsere vielgerühmte Vorzeigeautonomie?



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  • Italiani, innanzitutto.

    Qualche giorno fa il Presidente sudtirolese Arno Kompatscher (SVP) decideva di non genuflettersi dinnanzi all’imposizione del «governo amico» di festeggiare l’ingresso in guerra dell’Italia, cent’anni or sono, contro l’impero austro-ungarico. Una guerra nel corso della quale lasciarono la vita milioni di giovani e alla cui fine il Tirolo venne spaccato in tre parti senza tenere minimamente conto della volontà delle sue abitanti. Se festeggiare l’inizio di una guerra — issando una bandiera o in qualsiasi altro modo — è di per sé un’idiozia, lo è a maggior ragione in una terra come la nostra, indipendentemente da chi vinse e chi perse o da chi fu o meno nel giusto e nel torto.

    Se la bandiera è un simbolo carico di significati, anche le reazioni seguite al rifiuto — saggio, circostanziato e «autonomo» — del Landeshauptmann ci aiutano a comprendere simbolicamente qual è il grado di sensibilità  con cui dopo un secolo di appartenenza allo stato italiano siamo confrontati. Non solo in tanti decenni nessuno ha sentito il dovere di rivolgere una parola di rammarico agli abitanti di questa terra, ma ogni qualvolta la nostra sensibilità  si discosta da quella «nazionale» veniamo prontamente redarguiti.

    Questa volta a dare inizio ai festeggiamenti è stato Bruno Vespa — presentatore televisivo nonché vecchia conoscenza di Arno Kompatscher — criticando duramente la scelta del Landeshauptmann e aggiungendo che in cent’anni, se avessero voluto, i sudtirolesi avrebbero potuto passare «dall’altra parte» [del confine]. Affermazioni fatte nel corso di una trasmissione ospitata da quella stessa televisione pubblica che avrebbe il compito di informare e concorrere alla formazione dei cittadini, educandoli al reciproco rispetto, alla tolleranza e quindi anche alla conoscenza delle molteplici anime e identità che lo stato (volente o nolente) contiene. La ministra della difesa presente in studio non solo non trovava nulla da eccepire, ma esprimeva, anch’essa, la sua irritazione e incomprensione per la decisione di Kompatscher. Non paga, ed evidentemente incapace di comprendere le ragioni dei sudtirolesi, successivamente tornava sulla questione, invitando il Presidente a rivedere la sua posizione. Nel frattempo un’altra ministra del governo Renzi, Maria Elena Boschi, si associava affermando che «prima di tutto siamo italiani».

    Giorgia Meloni, leader del movimento Fratelli d’Italia, è giunta addirittura a invitare Arno Kompatscher ed il suo collega trentino a dimettersi dalle loro cariche e a lasciare l’Italia. Mentre è di poche ore fa l’annuncio dell’ex ministro Maurizio Gasparri di voler chiedere al ministro degli interni Angelino Alfano quali misure [punitive] intenda addottare nei confronti dei due governatori.

    Ve ne fosse stato bisogno, l’elenco di quest’incredibile escalation, degna forse di una dittatura ma certamente non di una moderna democrazia europea, ci dimostra — sul versante simbolico — quanto stretti (se non inesistenti) sono gli spazi di «distinzione» e di «autodefinizione» che lo stato-nazione ci concede. Prima di tutto siamo italiani. C’è poco da meravigliarsi in una «nazione» che nel XXI secolo ha bisogno di festeggiare la morte di milioni di individui perché hanno portato a compimento l’unità nazionale.

    E qui purtroppo ci stiamo riferendo a un’élite politica e giornalistica, trasversale alle ideologie e agli schieramenti politici, per cui invocare l’attenuante secondo cui «non conoscono le particolarità sudtirolesi» sarebbe veramente ozioso.

    Vedi anche: 01 || 01



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  • Stichwahlen in Bozen, Meran und Leifers.

    Gestern haben in den drei Städten Bozen, Meran und Leifers die Bürgermeister-Stichwahlen stattgefunden. Die Kandidaten, die sich durchsetzen konnten, müssen nun im Gemeinderat tragfähige Mehrheiten schmieden.

    • In Meran gelang dem grün-bürgerlichen Paul Rösch eine Sensation, indem er sich mit über 60% haushoch gegen Gerhard Gruber von der bislang regierenden SVP durchsetzen konnte. Dies, obschon Gruber in der Stichwahl von PD, Alleanza per Merano und Lista Balzarini unterstützt wurde. Mit Röschs Sieg wurde, sofern er im Gemeinderat eine Mehrheit findet, wohl die Gefahr einer Regierung unter Beteiligung neofaschistischer Kräfte gebannt.
    • In Bozen konnte sich der bisherige Bürgermeister Luigi Spagnolli (mit 57,7%) ebenfalls eindeutig gegen den Postfaschisten Alessandro Urzì und seine rechte bis rechtsextremistische Koalition durchsetzen. Allerdings legte Urzì im Vergleich zum ersten Wahlgang von 12% auf über 40% der Präferenzen zu. Es bleibt abzuwarten, ob Spagnolli der Versuchung widersteht, bei der Suche nach einem Koalitionspartner auf eine Zusammenarbeit mit der Lega oder gar Teilen des Wahlbündnisses von Urzì zurückzugreifen. Die zu Spagnollis Wahlbündnis gehörende SVP möchte keine Zusammenarbeit mit den linken und ökosozialen Kräften (Kommunisten, SEL, Grüne) mehr.
    • In Leifers konnte sich mit Christian Bianchi der Kandidat der Rechtskoalition knapp gegen die scheidende Bürgermeisterin Liliana Di Fede (PD) durchsetzen. Die SVP hat Bianchi bereits durch ihre Neutralität bei der Stichwahl signalisiert, dass sie auch mit ihm koalieren würde. Zu Bianchis Parteienbündnis zählt unter anderem die ausländerfeindliche Lega Nord, die unter Matteo Salvini italienweit Wahlbündnisse mit der neofaschistischen und gewaltbereiten CasaPound eingeht.

    Festzustellen ist, dass sowohl in Bozen, als auch in Leifers für Antifaschistinnen und -nationalistinnen keine eindeutige Wahl bestand, da sowohl Spagnolli, als auch Di Fede diesbezüglich nicht unbedenklich und somit nur das geringere Übel waren.



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  • Keine Beziehungen…
    Quotation

    Wir haben mit CasaPound keine Beziehung, wir wollen diese Beziehungen nicht haben. Ich bin sehr traurig, weil diese Aussagen [von Andrea Bonazza] sind sehr schlecht. […]  Ich denke aber, wir sollten an die Zukunft denken und für die Zukunft arbeiten und immer weniger an die Vergangenheit denken.

    Alessandro Urzì, Bozner Bürgermeisterkandidat von AAnC, Forza Italia und Unitalia im Stol-Interview.

    Aggiungo che per la prima volta ci siamo presentati staccati da Unitalia, che ha fatto altre scelte, ma uno dei loro eletti è un nostro caro amico, un ragazzo che è cresciuto con noi e che viene dalla scuola politica di CasaPound, quindi gli facciamo gli auguri.

    Andrea Bonazza (CasaPound) im Interview mit »Il Primato Nazionale«.



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  • Selbstbestimmung in Europa.

    Dreizehnminütiges Kurzreferat von Prof. Nico Krisch während einer Tagung zum Thema Selbstbestimmung in Europa (»Better together or happy apart?«) die am 19. November letzten Jahres — in Zusammenarbeit mit Diplocat — an der renommierten Hertie School of Governance in Berlin stattgefunden hat:

    Krisch argumentiert, dass Unabhängigkeitsbestrebungen in Europa sich heute nicht auf schwere Diskriminierungen oder auf den Kampf gegen Unterwerfung berufen, sondern auf den Wunsch nach Selbstverwaltung in einem angemessenen Rahmen. Das Völkerrecht beinhalte zwar nur wenig, was solche Bestrebungen stützen könnte, doch das Recht sei nicht das Ende der Geschichte, da Recht stets das Ergebnis von Politik sei. London etwa habe im Umgang mit Schottland stets auf Politik und Dialog statt auf die strikte Einhaltung von Gesetzen gesetzt. Im Übrigen beinhalte doch die Demokratie letztendlich das Versprechen, über alles demokratisch entscheiden zu dürfen, und es sei eben nicht besonders demokratisch, den Bevölkerungswillen einfach zu ignorieren.

    Laut Krisch stellt Europa im internationalen Kontext einen Sonderfall dar, da Sezessionen sich im Rahmen der EU kaum destabilisierend auswirken würden. Man könnte hier also nicht nur weit mehr vom bereits genannten demokratischen Versprechen umsetzen, die EU biete sogar vielfach erst den Anreiz für Unabhängigkeitsbestrebungen, da sie als übergeordnete politische Einheit die Zugehörigkeit zu einem größeren Staat entbehrlich mache. In diesem Sinne sei die EU auch keine herkömmliche internationale Organisation, sondern eine Art föderale Struktur — und föderal organisierte Staaten hätten gewöhnlich Regeln, wie sie mit internen Erweiterungen umgehen. Laut Krisch wäre es wichtig, dass sich auch die EU derartige Regeln gibt, anstatt die Frage der Unabhängigkeit nur den einzelnen Mitgliedsstaaten zu überlassen und etwa ein unabhängiges Schottland als gewöhnlichen Beitrittskandidaten zu betrachten.

    Wer die heutigen Sezessionsbestrebungen in Europa als neuen Tribalismus oder der europäischen Einigung entgegengesetzt betrachte, lasse außer Acht, dass es sich hierbei nicht — wie im frühen 20. Jahrhundert — um ethnisch motivierte, sondern um inklusivistische Projekte handelt, meist fortgeschrittener, als die Staaten, von denen sie sich loslösen möchten. Selbstverständlich könnte man sich, so Krisch, alternative und hybride (»postmoderne oder neo-medievale«) Modelle zur Überwindung von Staaten als solche vorstellen, doch heute seien Staaten nach wie vor eine der wichtigsten und somit attraktivsten politischen Organisationsformen. Welches Modell man auch immer bevorzuge, sei es jedoch kaum möglich, demokratische Bestrebungen weiterhin einfach zu ignorieren, wie es die europäische Kommission bis dato mache. Die heutigen Bewegungen seien politisch zu stark, um ignoriert zu werden, und dies habe viel mit dem sehr europäischen Versprechen von mehr Demokratie zu tun.

    Siehe auch: 01 02 03 04



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  • M. Verdorfers abstruser Vergleich.

    Im Morgengespräch von Rai Südtirol vom 23.05.2015 äußert sich die Historikerin Martha Verdorfer zur aktuellen Polemik um die Fahnenverordnung der italienischen Regierung anlässlich der Kriegserklärung Italiens an Österreich-Ungarn.

    Der Grundtenor des Gesprächs ist generell eine bestimmte Relativierung. Da wird von einem ärgerlichen und lächerlichen Streit gesprochen, der durch einen ungeschickten Erlass der italienischen Regierung hervorgerufen wurde. Es wird zwar honoriert, dass die Fronten in diesem Streit nicht nach ethnischen Bruchlinien verlaufen und dass es nicht angebracht ist, den Toten mit einem Fahnenerlass zu gedenken. Trotzdem kritisiert Verdorfer, dass in Südtirol eine Auffassung vorherrscht, dass es keinen Grund gäbe, sich mit dem italienischen Gedenken zu solidarisieren oder da gemeinsam der Toten zu gedenken.

    Diesbezüglich gilt es anzumerken, dass “ungeschickter Erlass” schon beinahe ein Euphemismus ist. Zudem ist nicht die Polemik um den Fahnenerlass ärgerlich und peinlich, sondern der Fahnenerlass selbst ist ärgerlich und peinlich. Hier wird Ursache und Wirkung verwechselt.

    Sonderbar auch Verdorfers Kritik, dass sich Südtirol weigert, sich am italienischen Gedenken zu beteiligen. Im weiteren Verlauf des Gesprächs betont Verdorfer die europäische Dimension des Weltkrieges und kritisiert den in Tirol einengenden Blick auf die Brennergrenze. Dass ein “italienisches” Gedenken auch einengend ist und der europäischen Dimension des Konfliktes nicht gerecht wird, scheint für Verdorfer kein Thema zu sein.
    Zudem, wenn der italienischen Regierung eine Beteiligung Südtirols wichtig ist, dann wären gleichberechtigte Gespräche auf Augenhöhe im Zuge der Vorbereitungen wohl eine Grundvoraussetzung. Ist die italienische Regierung jemals an die Südtiroler Landesregierung herangetreten, um sich zu erkundigen, welche Vorstellungen und welche Voraussetzungen für eine eventuelle gemeinsame Feier notwendig wären? Nein. Eine “Provinz” beteiligt man nicht gleichberechtigt, einer “Provinz” erteilt man Befehle.

    Martha Verdorfer kritisiert, dass sich Tirol immer gerne als Opfer betrachtet und den 1. Weltkrieg auf 1915, die Dolomitenfront und die Brennergrenze reduziert. Man solle von dieser Zentralität wegkommen und den 1. Weltkrieg als gesamteuropäischen Krieg betrachten.

    Rai Südtirol: Und weshalb hält man die Tiroler in dieser Opferhaltung fest, weil es praktisch ist oder ist der Geschichtsunterricht so schlecht, haben die Tiroler nichts gelernt was sonst so los war?

    Martha Verdorfer: Ja, weil ich glaub tatsächlich, weil es praktisch ist und weil es schon ein bisschen, glaub ich, gehört es so, das ist auch, was ich am wenigsten an diesem Land mag, dass man so den Blick an der Brennergrenze, dass der dort oft haltmacht.
    Ich möcht nur ein ganz kleines Beispiel, Belgien, ein kleines Land, das von den Deutschen überrollt, überrannt worden ist, ein neutrales Land, wo Massaker angerichtet worden sind. Also die haben sozusagen, die hätten allen Grund jetzt sozusagen ein feindliches Verhältnis zu Deutschland zu haben. Und was ist mit Belgien, was ist mit Brüssel, sie sind heute das Symbol eines geeinten Europa. Ich denk mir, die haben ihre Rolle und dieses Leid als Ausgangspunkt genommen für eine neue Vision der Zukunft. Und ich glaub, das fehlt den Südtirolern ein bisschen. Sie suhlen sich immer so ein bisschen in ihrer Sonderrolle, oder in ihrer Opferrolle oder sie sind die besonders Fleißigen, aber sie sind immer so ein bisschen besonders. Also es ist praktisch und es schmeichelt irgendwie der Identität.

    Der Vergleich mit Belgien ist geradezu grotesk:

    • Es ist nicht bekannt, dass Belgien oder Teile von Belgien gegen den Willen der dortigen Bevölkerung als Folge des 1. Weltkrieges von Deutschland annektiert wurden. Ganz im Gegenteil. Mit Eupen-Malmedy wurde ein deutschsprachiges Gebiet vom Deutschen Reich an Belgien angegliedert.
    • Es ist nicht bekannt, dass die deutsche Bundesregierung den BelgierInnen vorschreibt, wie dem 1. Weltkrieg zu gedenken sei.
    • Es ist insbesondere nicht bekannt, dass die deutsche Bundesregierung am 4. August 2014, anlässlich des 100-jährigen Gedenkens zum deutschen Einmarsch in Belgien, per Erlass vorgeschrieben hat, diesem Ereignis durch Hissen der deutschen Flagge an allen öffentlichen Gebäuden Belgiens zu gedenken.
    • Es ist bekannt, dass sich die Bundesrepublik Deutschland, zumindest für eine Gräueltat (Massaker von Dinant) zwar spät (2001), aber immerhin, entschuldigt hat. Es ist nicht bekannt, dass sich jemals eine italienische Regierung in Südtirol für die Annexion oder für den Faschismus entschuldigt hätte.
    • Als unabhängiges und souveränes Land kann Belgien seine Zukunftsvisionen im Rahmen internationaler Verträge selbst definieren und umsetzen. Südtirol kann dies nicht.

    Wenn wir von europäischer Vision und Blick über den Tellerrand sprechen, dann gäbe es ein wesentlich naheliegederes Beispiel: Das geografisch nicht weit von Belgien entfernte Luxemburg.
    Das unabhängige und souveräne Luxemburg definiert sich, ohne jeglichen nationalstaatlichen Einfluss, etwa Frankreichs oder Deutschlands, als mehrsprachig. In Luxemburg gibt es auch einige EU-Institutionen und dank dem Status eines unabhängigen Landes können die gut 500.000 LuxemburgerInnen die EU-Politik gleichberechtigt mitgestalten. Als kleines Land ist Luxemburg geradezu gezwungen, international vernetzt zu sein.

    Eine Realität, die in vielen Punkten Schnittmengen mit den Visionen von aufweist. Woran scheitern diese Visionen? Nicht an denjenigen BürgerInnen Südtirols, die sich an aufgezwungenen, nationalstatlichen Symbolen reiben, sondern an denjenigen, die sich immer dann echauffieren, wenn zaghaft die nationalstaatliche Logik in Frage gestellt wird. Der Fahnenerlass ist Teil dieser nationalstaatlichen Logik. Eine Logik, entsprungen aus der vergifteten Ideologie, die den 1. Weltkrieg verursacht hat.



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  • Tiefste Provinz?
    Quotation

    Sie sind ordentlicher Professor in der Schweiz, Sie sehen Südtirol von außen. Ist Südtirol tiefste Provinz?

    An dieser Stelle möchte ich Karl-Markus Gauß zitieren […]: »Provinz ist dort, wo Provinzler Provinzler Provinzler schimpfen.« Die Provinz ist überall, egal, ob auf dem Land oder in einer Großstadt wie London. Der Begriff ist entstanden, weil in der Provinz die Chancen von Wissen und Kulturtransfer nicht gegeben waren. Der Begriff Provinz funktioniert heute aber nicht mehr.

    Aus dem Interview mit dem Südtiroler Architekten Walter Angonese in der dieswöchigen ff.

    Siehe auch: 01 02 03 04 05 06 || 01 02 03



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