Sehr geehrter Herr Landeshauptmann Arno Kompatscher, geschätzte Entscheidungsträger:innen in der Südtiroler Volkspartei,
wir sind Frauen, wir sind Mütter, wir sind Töchter, wir sind Schwestern und wir sind wütend. Wütend und enttäuscht über die anhaltenden Koalitionsverhandlungen der SVP mit den Parteien Fratelli d’Italia (FdI), Lega und Die Freiheitlichen – denn weder die Parteiprogramme noch die bisher geleistete politische Arbeit dieser Parteien stehen für eine progressive, evidenzbasierte, moderne oder auch frauenfreundliche Politik.
Zu einer zukunftsfähigen Politik gehören Entscheidungen, die die Vereinbarkeit von Familie und Beruf, die Aufwertung von Sorgearbeit, das Aufbrechen tradierter Rollenbilder, die Prävention jeglicher Form von Gewalt gegen Frauen und die Gestaltung und der Erhalt eines sozialen und ökologischen Lebensraumes im Sinne der intergenerationalen Gerechtigkeit zum Ziel haben — und dies vor dem Hintergrund einer ethischen Wertehaltung, die den Grundrechten aller Menschen entspricht und niemanden aufgrund seines soziokulturellen Hintergrundes, der Religionszugehörigkeit, des Lebensentwurfes, der Familienkonstellationen oder der Sexualität diskriminiert. Die potentiellen Regierungspartner*innen stehen nicht dafür.
Diese Ziele entsprechen jedoch den gesellschaftlichen Bedürfnissen, den vertraglich festgelegten Zielen und Werten der EU und den europäischen Energie- und Klimazielen 2030 — und diese sind gesellschaftspolitisch gesehen von deutlich höherer Dringlichkeit als die Rückholung einzelner Kompetenzen in die Südtiroler Autonomie (zumal die rechten Regierungspartner*innen auch kein Garant für den Erfolg dieser Kompetenzrückholungen sind). Harald Stauder hat für die SVP im rezenten „Pro&Contra“ den Eingang dieser Koalition mit „Sachpolitik“ begründet, doch ist das genaue Gegenteil der Fall: Es ist Parteipolitik in Reinform, die die SVP betreibt, indem sie Koalitionsgespräche mit den Fdl, der Lega und den Freiheitlichen eingeht.
Mit einer Mischung aus Erstaunen und Empörung verfolgen wir den politischen Diskurs, der sich seit der ersten rechtslastigen Koalition der SVP mit der Lega bis heute weiter verschärft hat und u.a. darin gipfelt, dass FdI’s Marco Galateo Südtirols Kunst- und Kulturschaffenden mit einer SLAPP-Klage (Strategic Lawsuit Against Public Participation) droht, weil diese sich in einer Stellungnahme kritisch gegenüber der diskriminierenden Inhalte der Fdl, der Lega und Der Freiheitlichen und gegen eine Koalition ausgesprochen haben. Die freundliche Drohung macht (erneut) deutlich, welche diskursive Marschrichtung durch die Regierungsbeteiligung der FdI zu erwarten ist.
Wir teilen die Besorgnis vieler Bürger*innen über eine potenzielle Regierungsbeteiligung dieser Parteien.
Eine Koalition mit Parteien, die in wesentlichen Stücken diskriminierend, reaktionär, antifeministisch, queerfeindlich und populistisch agieren, bedeutet nicht nur einen Rückschritt für die Frauenrechte, sondern schwächt noch mehr das gesamte soziale Gefüge und hat keine Antworten auf die aktuell drängenden gesellschaftlichen Fragen.
Auch wenn die Koalition bereits in trockenen Tüchern scheint, da Parteipolitik und nicht Sachpolitik dieser offensichtlich seit längerem den Weg bereitet, appellieren wir an die SVP, ihren Richtungseinschlag zu überdenken und dem Wunsch der Wähler*innen, die den progressiven Flügel der SVP gestärkt haben, nachzukommen. Im Klartext: Keine Koalition mit reaktionären, rechten, diskriminierenden, antifeministischen, queerfeindlichen und menschenfeindlichen Parteien, deren Parteiprogramm und -arbeit nicht auf den Prinzipien der Gleichberechtigung, Freiheit und Respekt basieren.
Abschließend möchten wir darauf hinweisen, dass wir hinter den Werten einer zukunftsfähigen, sozialen und nachhaltigen Gesellschaft stehen und uns durch politische Machtdemonstrationen nicht einschüchtern lassen. Wir werden Ihre politischen Entscheidungen verfolgen, wir werden sie analysieren, quantifizieren, für die Bevölkerung sichtbar machen, gesellschaftspolitisch einordnen und damit die Erosion der Wertehaltungen und die Tragweite und Bedeutung der oft abstrakt scheinenden Politentscheidungen für das Leben der Einzelnen aufzeigen.
Wir machen dies als vernetzte Frauen, als Unternehmerinnen, als Akademikerinnen, als Lehrerinnen, als pädagogische Fachkräfte, als Wissenschaftlerinnen, als Ärztinnen, als Krankenpflegerinnen, als Künstlerinnen, als Architektinnen, als Pflegehelferinnen, als Studentinnen, als Führungskräfte, als Hausfrauen, als Handwerkerinnen, als Mütter, die für sich und ihre Kinder eine zukunftsfähige Welt gestaltet wissen wollen.
Wir verwehren uns der gesellschaftlichen Spaltung, der reaktionären Diskursrichtung und den populistischen Tendenzen und appellieren an die SVP, sich kurz vor knapp der gesellschaftspolitischen Dringlichkeiten, der Prinzipien einer zukunftsweisenden Politik und der eigenen Wahlversprechen zu entsinnen.
Weil, Mander, es isch Zeit für Zukunft!
Der Brief wurde von über 2.300 Frauen unterschrieben.