Es ist schwierig bis unmöglich, über den Nahostkonflikt zu schreiben, ohne zynisch oder relativierend zu wirken und jeder einordnende Vergleich hat das Potenzial, als billiger Whataboutism abgetan zu werden. Der Konflikt ist aufgrund seiner Komplexität und der mitunter paradoxen Zusammenhänge kaum auf konventionellen – sprich diplomatischen oder kriegerischen – Wegen zu lösen, denn sonst wäre dies in den mehr als 75 Jahren, die der De-facto-Kriegszustand bereits andauert, wohl schon längst passiert. Evident ist, dass die Geschichte ein entscheidender Faktor für das Verständnis und die Einordnung des Konfliktes, nicht aber für dessen Lösung ist. Es ist wichtig, die historischen Hintergründe zu kennen, um Falschinformationen und Propaganda als solche entlarven zu können. Gleichzeitig werden historische Argumente – faktische wie auch frei erfundene –, wie sie von Vertretern beider Seiten ins Treffen geführt werden, aber nicht aus der Sackgasse führen. Biblisch begründete Ansprüche und andere geschichtliche Beweggründe führen ins Nichts. Viel zu verwoben sind mittlerweile die Stränge, als dass sie sich einfach aufdröseln ließen.
Dennoch erweckt die momentane Debatte um die neuerliche Eskalation des Konfliktes, dass es – je nach Blickweise – pauschal und objektiv eindeutig gut und böse, richtig und falsch, gerecht und unfair, rechtens und illegal gäbe und dass sich das jeweils Gute, Richtige, Gerechte und Rechte nur durchsetzen müsste. Mittels vielfach nur anekdotischer Evidenz werden einfache Antworten gegeben. Natürlich lassen sich vorher genannte Attribute an einzelne Ereignisse und Akteure heften – aber eben nicht auf „Israel“ oder „die Palästinenser“ als Ganzes. Der weltweite Trend, sich wie bei einem Fußballspiel blindlings entweder bedingungslos auf die Seite des Teams Palästina oder des Teams Israel zu stellen, ist schlichtweg pervers und zeugt von Ignoranz und auch Geringschätzung der Tragik. Daher möge man mir den Zynismus und die Relativierung verzeihen, die eventuell aus den folgenden Zeilen herauszulesen sind. Mein Ziel ist es, der Debatte an dieser Stelle die blindmachende Emotionalität zu nehmen, Propaganda außen vor zu lassen und einfach nur belegbare Fakten zu strapazieren, in der Hoffnung, dass dies dazu beiträgt, – zumindest im Kleinen – festgefahrene Positionen zu überdenken und Diskussionen zu versachlichen. Sollte ich etwas geschrieben haben, was nicht den Tatsachen entspricht, bin ich froh über Rückmeldungen in den Kommentaren oder über das Fehlerformular.
Wem gehört das Land? Wer war zuerst da?
Wie schon eingangs erwähnt, ist diese Frage eigentlich irrelevant, da mittlerweile Millionen von Juden und Muslimen (im Kern handelt es sich um einen Religionskonflikt – aber dazu später) in dem Gebiet leben und eine ethnische Säuberung niemals die Lösung des Konfliktes sein kann. Zudem gibt es weder in den palästinensischen Gebieten und noch viel weniger in Israel homogene Bevölkerungen, die sich so leicht einer Seite zuordnen ließen. Selbst innerhalb des betroffenen Gebiets gibt es also mehr als nur die zwei – von den meisten Menschen wahrgenommenen – Seiten („die Israelis“, „die Palästinenser“). Einmal ganz abgesehen von den globalen Playern im Hintergrund: USA & EU (mit historischer Verantwortung gegenüber und systemischem Interesse an Israel und gleichzeitig mit die größten Geldgeber der Palästinenser), Russland (als Anführerin einer autoritären weltweiten Allianz gegen den Westen), Türkei (NATO-Mitglied mit Sympathien für Hamas), arabische Staaten (Verbündete und Gegner des Westens/Israels und der Palästinenser zugleich), Iran (mittlerweile mit sunnitischen Palästinensern verbündete schiitische Großmacht).
Fest steht, dass es eine kontinuierliche rund 3.000-jährige jüdische Besiedelungsgeschichte in dem Gebiet gibt – mal als große Mehrheit, mal als kleine Minderheit. Die jüdische Besiedlung – geprägt von Herrschaft und Vertreibung – ist älter als die arabisch-muslimische, aus dem einfachen Grund, da das Judentum älter ist und es den Islam (wie auch das Christentum) ohne Judentum nicht gäbe. Al Aqsa und Felsendom sind sprichwörtlich auf den Mauern des jüdischen Tempels gebaut. Judäa, Samaria und Galiläa waren aber immer schon umkämpft. Bereits die Babylonier haben den ersten jüdischen Tempel zerstört. In der Folge kamen und gingen viele andere (hier werden nur die wichtigsten genannt): Nach den Babyloniern waren es die Römer – von denen übrigens auch der Name Palästina stammt – die im „Heiligen Land“ herrschten. Nach einem jüdischen Aufstand und der folgenden Vertreibung sollte auch die Gebietsbezeichnung nicht mehr an die Israeliten und das Land Kanaan erinnern. Im 7. Jahrhundert nach Christus begann die Futūh, die islamisch-arabische Eroberung weiter Teile des Orients, in Zuge derer auch Jerusalem eingenommen und beherrscht wurde – von den Umayyaden, Abbasiden, Seldschuken usw. Mit den Kreuzzügen und der Errichtung des Königreichs Jerusalem wurde die muslimische Vorherrschaft unterbrochen, ehe das Gebiet über viele Jahrhunderte zunächst von den Mamluken und dann von den Osmanen verwaltet wurde. Nach dem Ersten Weltkrieg begann schließlich die britische Mandatszeit, die bis 1948 dauerte. Einen Staat Palästina gab es in dieser ganzen Zeit nie. Das Land war zudem sehr dünn besiedelt. Im Jahr 1870 lebten in Jerusalem 11.000 Juden und 7.000 Moslems. Zu Beginn der 1920er-Jahre waren von den rund 750.000 Einwohnern in der Region (heute sind es mehr als 14 Millionen) 78 Prozent muslimisch, 11 Prozent jüdisch und 10 Prozent christlich. Nicht-Muslime waren zu dieser Zeit starker Diskriminierung ausgesetzt. Mit dem Beginn der zionistischen Bewegung Mitte bis Ende des 19. Jahrhunderts und gestärkt durch die Balfour-Deklaration von 1917, in der die Briten sich einverstanden erklärten, in Palästina eine „nationale Heimstätte“ des jüdischen Volkes zu errichten, kam es zu Einwanderungsbewegungen – in späterer Folge verstärkt durch den Holocaust –, die den jüdischen Bevölkerungsanteil bis 1945 auf 31 Prozent steigen ließen. Dabei wurde kein Land gestohlen oder besetzt; die jüdischen Einwanderer kauften vielmehr Ländereien von (meist arabischen) Großgrundbesitzern. Gleichzeitig kam es während des britischen Mandats aber auch zu einer starken Einwanderung arabischer Arbeitskräfte, die aus Syrien/Libanon, Ägypten und Transjordanien zuwanderten. Zusammen mit den bereits ansässigen muslimischen Arabern – die sich damals noch als solche bezeichneten – haben sich diese im Laufe der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts im Rahmen einer Art „Nation-Building“ zum Volk der Palästinenser geformt. Gleichzeitig entstand die Idee für einen eigenen Staat Palästina, der in der Zeit vor dem Sechstagekrieg, als Gaza, Ostjerusalem und Westjordanland von arabischen Ländern besetzt waren, kein Thema war. Ein großer Teil der heutigen Bevölkerung – sowohl auf arabischer, aber noch mehr auf jüdischer Seite – sind Nachkommen von Menschen, die das Gebiet erst im 20. Jahrhundert besiedelt haben, wobei die frühen Zionisten sogar vor den arabischen Arbeitsmigranten ins Land gekommen sind. Etwa die Hälfte der Bevölkerung Gazas stammt von – vornehmlich ägyptischen – Einwanderern ab, die während der britischen Kolonialzeit nach Gaza kamen. Liej inant / Weiterlesen / Continua →
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