Salto-Chefredakteur Fabio Gobbato und Elena Mancini haben mit Alessandro Urzì von den neofaschistischen Fratelli d’Italia ein Interview geführt, in dessen Verlauf sie den soeben bestätigten Vorsitzenden der Sechserkommission mit Verweis auf Aussagen von Francesco Palermo und Karl Zeller (SVP) regelrecht dazu drängen, von wichtigen Teilen des Autonomieausbaus Abstand zu nehmen.
Interessanterweise behaupten sie sogar, dass die detaillierte Aufzählung der Landeszuständigkeiten im Statut angeblich einer Entmachtung des Verfassungsgerichts entspreche, was aber Palermo so nicht gesagt hat. Seine Kritik galt hauptsächlich der Aufwertung der Durchführungsbestimmungen, eine Maßnahme, die Südtirol seiner Meinung nach quasi in ein »gallisches Dorf« verwandeln würde — ein Vergleich, den ich für eine Autonomie als herabwürdigend empfinde.
Mir ist auch völlig schleierhaft, warum es plötzlich schlimm sein sollte, die Zuständigkeiten im Autonomiestatut (also in der Landesverfassung) zu verschriftlichen. Müsste die Festlegung der Autonomie nicht eine durch unf durch politische Angelegenheit und der Gang zum Verfassungsgericht (VG) eine absolute Ausnahme sein, auf die nur dann zurückgegriffen wird, wenn die Interpretation von Normen oder die Aufteilung der Zuständigkeiten unklar (bzw. strittig) ist?
Palermo selbst hatte jedenfalls vor einiger Zeit für möglichst detaillierte Formulierungen plädiert, um die enorme Anzahl an Streitfällen vor dem VG zu reduzieren und dessen Kreativität bei der Einschränkung autonomer Befugnisse einen Riegel vorzuschieben.
In dem Interview mit Urzì ist aber meiner Meinung nach vor allem dieser Passus von Bedeutung:
Kann man sich […] vorstellen, dass das Parlament über alles Gesetze erlassen kann, außer über ein Thema [die Autonomie, Anm.]? Also muss für das Einvernehmen eine möglichst elastische Definition gefunden werden, die die objektiven Interessen der im Land vertetenen Gruppen, also auch das unterschiedliche Gewicht der Sprachgruppen, berücksichtigt. Ich denke zum Beispiel daran, was bereits unter bestimmten Voraussetzungen für die nach Sprachgruppen getrennte Abstimmung [im Landtag/Regionalrat] vorgesehen ist, weil dies die Sprachgruppen explizit als konstituierende Gruppen des Autonomiesystems anerkennt. Etwas zu ersinnen, das das Einvernehmen auch auf diese Ebene bringt, kann fundiert und vernünftig sein. Bislang wurde betont, dass in dieser Angelegenheit eine einfache Mehrheit nicht ausreichen kann, sondern eine »sehr« qualifizierte Mehrheit nötig ist, die die Einbindung von Landtagsabgeordneten mehrerer Sprachgruppen bedarf. Das ist ein Thema, das die Verfassungsordnung betrifft, die Souveränität des Parlaments und wird natürlich eines der wichtigsten Themen sein, die am politischen Verhandlungstisch zu diskutieren sind. So wie der Text vom Landeshauptmann vorgelegt wurde, unterstellt er alles dem ausschließlichen Willen einer einzigen, nämlich der mehrheitlichen [= der deutschen, Anm.] Sprachgruppe, weshalb ich denke, dass er überarbeitet werden muss.
– Alessandro Urzì
Übersetzung von mir (Original anzeigen)
D’altro canto si può immaginare che il Parlamento possa legiferare su tutto tranne che su un aspetto? Ecco che allora forse va prevista una definizione di intesa la più elastica possibile, che tenga conto degli interessi oggettivi delle rappresentanze sul territorio, e quindi anche dei diversi pesi dei gruppi linguistici. Penso ad esempio a quanto già previsto in certe circostanze per il voto separato per gruppi linguistici perché riconosce esplicitamente i gruppi linguistici come gruppi costituenti del sistema dell’autonomia. Immaginare qualcosa che proietti l’intesa anche in questa dimensione può avere una sua fondatezza e ragionevolezza. Finora se ne è parlato evidenziando che in questa materia non può bastare una maggioranza semplice, ma serve una maggioranza “molto” qualificata che preveda la partecipazione dei consiglieri di più gruppi linguistici. Questo è un tema che riguarda l’assetto costituzionale, la sovranità del Parlamento, e ovviamente sarà uno dei principali temi da discutere al tavolo politico. Il testo così come è stato presentato dal Presidente subordina il tutto alla volontà esclusiva di un gruppo linguistico, quello maggioritario, e quindi credo vada rivisto.
– Alessandro Urzì
Was Urzì also vorschwebt, ist die Interpretation des Einvernehmens als ein reines Vetorecht — mit möglichst hohen Hürden. Insbesondere wäre dann, um bei einer einseitigen Abänderung des Autonomiestatuts tatsächlich ein Veto einlegen zu können, die Zustimmung der Abgeordneten aller Sprachgruppen (zumindest aber der deutschen und der italienischen) nötig.
Wenn das so käme, wäre es aus Sicht des Minderheitenschutzes geradezu eine Perversion des Einvernehmensgrundsatzes: eine Mehrheit der politischen Vertreterinnen der italienischen Sprachgruppe in Südtirol hätte es dann in der Hand, Änderungen am Autonomiestatut zu gestatten (bzw. nicht zu untersagen), die der italienische Staat gegebenenfalls einseitig durchsetzen möchte. Die Vertreterinnen der staatlichen Mehrheitsbevölkerung in Südtirol hätten ein Vetorecht über das Vetorecht des Landes — womit auf gesamtstaatlicher und auf Südtiroler Seite in letzter Instanz alle Macht bei der Titularnation läge. Wenn wir berücksichtigen, dass die Autonomie als solche dem Schutz der deutschen und der ladinischen Minderheit im fremdnationalen Staat dient und dass vom Vetorecht des Landes insbesondere auch Minderheitenschutzbestimmungen betroffen sein könnten, ist das Ansinnen von Urzì (das aber auch von Palermo gefordert wurde) regelrecht perfide. Wir brauchen uns nur vor Augen zu führen, wie autonomie- und insbesondere minderheitenfeindlich rechte und linke Parteien des italienischen Spektrums in Südtirol sehr oft sind, um ihre Unterstützung beim allfälligen Einsatz der Einvernehmensklausel als reine Illusion zu entlarven.
Wer tatsächlich gedacht hatte, der ultranationalistische Wolf habe sich mehr als nur einen Schafspelz umgelegt, wird wohl enttäuscht sein. Eine derartige Regelung wäre aber nicht nur kein Fort-, sondern ein klarer Rückschritt: Im Zweifel könnte der Zentralstaat dann behaupten, über das Einvernehmen zu verfügen, auch wenn eigentlich bloß kein Veto zustande gekommen ist, weil die Vertreterinnen der Titularnation im Landtag es verhindert haben.
Cëla enghe: 01
|| 01
02