Wie bereits im ersten Teil soll hier eine faktenbasierte Analyse versucht werden. Sollte ich also etwas geschrieben haben, was nicht den Tatsachen entspricht, bin ich froh über Rückmeldungen in den Kommentaren oder über das Fehlerformular.
Was ist die Rolle der arabischen „Freunde“ der Palästinenser?
Die Beziehung zwischen den arabischen Staaten und den Palästinensern (Ein Begriff, der als Bezeichnung für die muslimisch-arabischen Bewohner Cisjordaniens im Zuge des Nationbuilding in den 1960er-Jahren entstand. Zuvor wurde diese Bezeichnung für die antike jüdische Bevölkerung in dem Gebiet gebraucht.) ist eine zwiespältige bis widersprüchliche. Zu Beginn des Konflikts ließen Israels Nachbarländer keinen Zweifel daran, dass sie den jungen Staat vernichten wollen. Die Motivation für die Kriege, die begonnen wurden, war also weniger pro-palästinensisch, als vielmehr anti-israelisch bzw. anti-jüdisch. Sie war auch deswegen nicht pro-palästinensisch, weil die arabische Bevölkerung des britischen Mandatsgebietes als Gesamtheit gesehen wurde und es vor dem Ende des Mandats keine Staatsgrenze entlang des Jordans gab. Von 1921 bis 1923 umfasste das Mandat die Gebiete westlich (Cisjordanien bzw. Westpalästina) und östlich (Transjordanien bzw. Ostpalästina) des Jordans als Ganzes. Ab 1923 war Transjordanien ein autonomes Emirat innerhalb des britischen Mandats. Mit Fortdauer des Konfliktes und den dauernden Rückschlägen schwand zumindest die Lust der arabischen Verbündeten an der aktiven Kriegsbeteiligung. Man beschränkte sich auf moralische und diplomatische Unterstützung. Zwar kommt es in der arabischen Welt regelmäßig zu großen Solidaritätsbekundungen – in den Palästen, wie auch auf den Straßen -, wenn der Konflikt wieder einmal hochkocht, jedoch bei konkreten Hilfen sind die arabischen Staaten dann doch wieder zurückhaltend und die Solidarität ist enden wollend. Die humanitäre Hilfe für die Palästinenser wird hauptsächlich von den USA, der EU und generell dem Westen finanziert und nicht von den milliardenschweren Ölstaaten. Noch zurückhaltender ist man bei der Aufnahme neuer palästinensischer Flüchtlinge und deren Ausstattung mit Bürgerrechten. Im Fall von Ägypten hat das einen sehr nachvollziehbaren Grund. Der Gazastreifen grenzt an Ägypten und es wäre ein Leichtes hier Erleichterung für die notleidende Bevölkerung in Gaza zu schaffen bzw. ihnen Schutz zu bieten. Ägypten hat jedoch Angst vor einem Wiedererstarken der Muslimbruderschaft, wenn es Palästinenser ins Land lässt. Bei den ersten freien Wahlen nach dem Arabischen Frühling hatten die Muslimbrüder 2012 triumphiert. Mittels Militärputsch beförderte der jetzige Präsident Abd al-Fattah as-Sisi den demokratisch gewählten Mohammed Mursi von den Muslimbrüdern 2013 aus dem Amt. Die Hamas, mit der viele Palästinenser in Gaza sympathisieren, ist jedoch eine Tochterorganisation der Muslimbruderschaft und für die ägyptische Führung daher ein rotes Tuch.
Im Laufe der Zeit hat sich also nicht nur Ägypten, sondern auch andere arabische Staaten (Marokko, Jordanien, UAE, Bahrain, Sudan) mit der Existenz Israels angefreundet und die Beziehungen normalisiert. Zwar gilt Katar nach wie vor als einer der wichtigsten Unterstützer der Hamas – nicht zuletzt ist ein Indiz dafür, dass die milliardenschweren Anführer der Terrororganisation (Ismail Haniyya, der bei einem Aufenthalt in Teheran am 31. Juli 2024 durch einen – wahrscheinlich israelischen – Sprengsatz getötet wurde, Mousa Abu Marzouk, Chalid Maschal) in katarischen Luxushotels residier(t)en und von dort aus die Aktivitäten in Gaza steuern, wo die Bevölkerung im Elend versinkt -, jedoch hat sich das Freund-Feind-Schema innerhalb der arabischen Welt in letzter Zeit merklich verschoben. Daraus haben sich neue Allianzen ergeben. War Israel bis vor kurzem noch der alleinige arabische Erzfeind in der Region, so ist an seine Stelle mittlerweile der schiitische Iran getreten, der wiederum der neue, mächtige Unterstützer der sunnitischen Palästinenser ist. Es ist mittlerweile sogar eine leichte Annäherung zwischen Saudi Arabien und Israel in Sicht, die durch die gemeinsame Feindschaft zum Iran genährt wird. Die Unterstützung der palästinensischen Sache durch die schiitischen Huthi-Rebellen in Jemen, die dort gegen die von Saudi Arabien unterstützte Pro-Hadi-Regierung kämpfen, nährt ebenfalls dieses “Der-Feind-meines-Feindes-ist-mein-Freund”-Schema.
Widersprüche ohne Ende: Islamismus, Antisemitismus und die Linke/Rechte
Eine Sache hätte ich nicht für möglich gehalten: Eine faschistoide und radikalislamistische Terrororganisation wie die Hamas verübt – gedeckt von einem nicht kleinen Teil der Bevölkerung Gazas – eines der größten und grausamsten Verbrechen der jüngeren Geschichte, streamt die Gräueltaten live im Internet und paradiert in einem barbarischen, perversen, unmenschlichen Schauspiel misshandelte und geschändete Körper ziviler Opfer und Geiseln unter dem Jubel hunderter Menschen durch die Straßen Gazas. Attentäter prahlen im Telefonat mit ihren Eltern, wie viele Juden sie ermordet hätten und ihnen hallen stolze Allahu-Akbar-Rufe entgegen. Das Entsetzen über die Taten war zwar weltweit groß, aber dass es in der Folge in arabischen Ländern oder im Westen zu massiven Protesten mit tausenden Menschen auf der Straße in Solidarität mit den getöteten, misshandelten, vergewaltigten und entführten Menschen gekommen wäre, war nicht der Fall. Erst als die Angegriffenen begannen, die Mörder zu jagen und die Geiseln zurückzuholen, strömten die Menschen auf die Straße – in Solidarität mit den Palästinensern. Die klerikalfaschistische Hamas und die Ereignisse vom 7. Oktober spielten dabei kaum eine Rolle. Der Hass richtete sich – die Geschichte, wie ich sie in Teil 1 erzählt habe, völlig ausblendend oder bis zur Unkenntlichkeit verzerrend – einzig und allein gegen Israel. Selbst Fotos der entführten Geiseln waren vor diesem Hass nicht sicher und wurden vielerorts heruntergerissen. Es ist eine moralische Verkommenheit und eine geschichtsvergessene Ignoranz, die sprachlos macht.
Bitte nicht falsch verstehen: Es ist völlig legitim, sich für die Sache der Menschen in Palästina zu engagieren und dafür auf die Straße zu gehen. Die Ungerechtigkeit anzuprangern (wenngleich diese zu einem nicht unerheblichen Teil auch selbstverschuldet ist – siehe Teil 1) und den Staat Israel, seine Regierung und die Siedlungspolitik zu kritisieren, ist absolut gerechtfertigt. Wenn ich dabei allerdings mit den größten Hinderungsgrund für ein friedliches Miteinander in der Region ausblende – und zwar jene, die Israel und alle Juden aus religiösem Fanatismus vernichten und einen mittelalterlichen, totalitären Gottesstaat errichten wollen -, ist der Protest entweder primitiver Antisemitismus (Protest gibt es nur, wenn Israel der “Aggressor” ist), bewusste Heuchelei (wieso ist die Freiheit der Menschen in Jemen, Darfur, Kurdistan, Syrien usw. kein Thema?) oder einfach nur himmelschreiend naiv und dumm.
Bestes Beispiel dafür sind “Queers for Palestine”, die “From the River to the Sea” skandieren. Laut dem “LGBT Equality Index” liegt Palästina (6 Punkte) auf Platz 192 von 197 Ländern, was die Situation queerer Menschen anbelangt. Es gibt auf der Welt nur fünf Länder, in denen LGBTQIA+-Personen noch schlechter dran sind als in den palästinensischen Autonomiegebieten, wobei die Situation im Westjordanland (Westbank) tendenziell besser ist als in Gaza. Schwulen Menschen, die ihre sexuelle Orientierung öffentlich machen, droht der Tod. Israel hingegen erreicht in dem Ranking 64 Punkte und landet auf Platz 43 weltweit (zum Vergleich: Österreich ist 26., Italien 33.). Ahmad Abu Murkhiyeh beispielsweise war ein schwuler Palästinenser, der in Israel aus diesem Grund im Asyl lebte. Er wurde in der Folge aller Wahrscheinlichkeit nach nach Hebron entführt und von einem 25-jährigen Landsmann enthauptet, der die Tat filmte und auf Social Media verbreitete. Der Falls sorgte für Schlagzeilen und politische Diskussionen. In Israel leben derzeit 90 Palästinenser im Asyl aufgrund ihrer sexuellen Orientierung. “From the River to the Sea” bedeutet, dass der Staat Israel eliminiert wird und sich die “Freiheit” à la Hamas (anti-demokratisch, anti-feminin, anti-LGBTQ+, anti-Meinungsfreiheit, anti-Pressefreiheit, anti-Demonstrations- und Versammlungsfreiheit, anti-Religionsfreiheit usw.) über die gesamte Region erstreckt. Der einzige Ort, an dem queere Menschen im Nahen Osten einigermaßen in Sicherheit leben können, ist Israel, ein safe haven inmitten einer Region voller Schwulenhass (in mehreren Ländern der Region steht auf Homosexualität die Todesstrafe). Noch einmal: Ich kann mich auch als queere Person für die palästinensische Sache engagieren, sollte dabei allerdings nicht jede andere benachteiligte Gruppe oder Minderheit und jedes nur erdenkliche demokratische Freiheitsrecht opfern. Denn das wäre ein sehr selektives Verständnis von Freiheit. Paradoxerweise werfen viele linke Pro-Palästina-Aktivisten genau dieses selektive Verständnis anderen Linken vor, die nicht undifferenziert “Free Palestine” und “From the River to the Sea” rufen bzw. BDS (Boycott, Divestment and Sanctions) skeptisch sehen. Sie nennen sie PEP (progressive except Palestine). Dem könnte man entgegenhalten, dass das Ignorieren von vergewaltigten jüdischen Frauen, Marry-your-rapist-Praktiken in Gaza und dergleichen POP (progressive only for Palestine) ist. P.S.: Die antisemitisch angehauchte Erklärung, dass die Palästinenser aufgrund der Unterdrückung durch Israel keine freie, liberale Gesellschaft formen konnten, zieht nicht. Erstens gibt es diese freie, liberale Gesellschaft auch nicht in jenen Ländern der Region, die nicht von Israel “unterdrückt” werden. Und zweitens ist die Gesellschaft des “Unterdrückers” weitgehend frei und liberal.
Ein anderer paradoxer Aspekt ist jener der Zuwanderung. Für gewöhnlich stehen Linke einer Niederlassungsfreiheit von Menschen jeglicher Herkunft zumindest nicht negativ oder gänzlich ablehnend gegenüber. Im Falle jüdischer Zuwanderung in besagtes Gebiet scheint das anders zu sein, was wiederum ein Hinweis für antisemitische Ressentiments ist. Rund die Hälfte der Menschen in Gaza sind Nachfahren ägyptischer und anderer arabischer Zuwanderer im 20. Jahrhundert. Und rund die Hälfte der Bevölkerung Israels stammt von Menschen ab, die wiederum aus arabischen Ländern im 20. Jahrhundert vertrieben wurden. Unter pro-palästinensischen Gruppen werden erstere oft als “autochthone Bevölkerung” und zweitere als “Kolonialisten” geframt. Ist also jüdische Zuwanderung in den und aus dem Nahen Osten für diese Gruppierungen generell nicht erwünscht? Liej inant / Weiterlesen / Continua →