In der Freitagsausgabe der TAZ ist ein zweiseitiger Gastbeitrag des ehemaligen Oberschuldirektors Gottlieb Pomella erschienen, in dem er sich mit Kann Südtirol Staat? von Noiland Südtirol-Sudtirolo befasst.
Dass knapp zwei Jahre nach seinem Erscheinen noch ein so ausführlicher Beitrag in einem Tagblatt abgedruckt wird, spricht für die anhaltende Aktualität des Buches und des darin behandelten Themas. Obschon ich mit seinem Befund nicht einverstanden bin, freut mich Pomellas Stellungnahme außerordentlich, denn ein zentrales Anliegen der Publikation, an der ich auch mitgewirkt habe, war es, eine sachliche Debatte jenseits der üblichen Vorurteile anzuregen. Ich möchte ihm daher an dieser Stelle danken.
Trotz des knackigen Titels (Südtirol kann nicht Staat), den die Tageszeitung ihm verpasst hat, weist der Autor in seinem Beitrag nicht nach, dass Südtirol nicht Staat könne, sondern stellt mehrere Aspekte und vor allem die Opportunität eines solchen Anliegens in Frage.
Auf einige der von Pomella vorgebrachten Argumente möchte ich im Folgenden antworten, wobei ich vorausschicke, dass mein Beitrag weder inhaltlich mit Noiland Südtirol-Sudtirolo abgestimmt wurde noch in irgendeiner Weise als Stellungnahme des Vereins zu verstehen ist.
In Bezug auf die im Buch genannten Kleinstaaten Island, Malta, Estland, Lettland und Litauen schreibt Pomella:
Bei allen drei beschriebenen Beispielen [Island, Malta, Baltikum] handelt es sich um geographisch klar umgrenzte Gebiete und um eine Bevölkerung mit gemeinsamer geschichtlicher, kultureller und sprachlicher Identität. Dies trifft im Falle von Südtirol aufgrund seiner geschichtlichen Entwicklung und des Vorhandenseins dreier verschiedener Sprachgruppen so nicht zu.
– Gottfried Pomella
In dem Buch wird klar gesagt, dass Südtirol nicht einen sprachlich und kulturell homogenen Nationalstaat anstreben sollte, sondern (wie Pomella in der Folge selbst einräumt) eine mehrsprachige Willensgemeinschaft, wie die Schweiz eine ist.1S. 26ff.
Die Grenzen Südtirols sind zwar selbstredend nicht so eindeutig wie die der Inselstaaten Island und Malta, werden aber auch von niemandem ernsthaft in Frage gestellt. Wie wir alle wissen, sind die meisten Staaten der Erde keine Inseln und haben dementsprechend meist auch keine eindeutigen Grenzen, doch das steht ihrer Staatlichkeit nicht entgegen.
Die von Pomella ins Feld geführten baltischen Staaten (Estland, Lettland und Litauen) sind sogar sehr gute Gegenbeispiele. Denn anders als er schreibt, haben sie sich im Laufe der Jahrhunderte (einschließlich des 20. Jahrhunderts) sowohl territorial als auch sprachlich-kulturell teils sehr stark (vgl. z.B. 01
) verändert. Noch heute sind sie sehr heterogen und beherbergen größere Sprachminderheiten, insbesondere russische und polnische.
Auch der geographisch klar umrissene Inselstaat Malta ist übrigens sprachlich alles andere als homogen. Hier werden die Kolonialsprache Englisch, Maltesisch und Italienisch gesprochen. Island war vor der staatlichen Unabhängigkeit auf dem Weg zur Dänisierung.
Bezüglich des nötigen Einvernehmens zwischen den Sprachgruppen in Südtirol führt Pomella ins Feld, dass dies beim Südtirolkonvent nicht gelungen sei:
Bei einem ersten zaghaften Versuch einer gemeinsamen Willensbildung anlässlich des Südtiroler Autonomiekonvents in den Jahren 2016-2017 konnte sich die sogenannte 33-Gruppe jedoch zu keiner mehrheitsfähigen Position in diesem Sinne durchringen.
– Gottfried Pomella
Der partizipative Prozess des Konvents war zwar dafür gedacht, wo möglich einen Konsens zu erarbeiten, es war aber weder das Ziel, zu einer einheitlichen Position aller Teilnehmenden zu gelangen, noch, irgendwelche Mehrheiten zu ermitteln. Ganz im Gegenteil sollten die verschiedenen Sensibilitäten auch im Schlussdokument Platz finden. Daher kann er nicht als Beleg für die angebliche Unfähigkeit zur gemeinsamen Willensbildung dienen. Meines Wissens verliefen die Hauptbruchlinien auch keineswegs immer zwischen den Sprachgemeinschaften.
Nicht zuletzt war es nicht die Aufgabe des Autonomiekonvents, eine Position im Sinne der staatlichen Unabhängigkeit zu erarbeiten, weshalb das Thema (trotz gegenteiligen Drucks einiger Mitglieder) nur am Rande behandelt werden konnte.
Aufgrund der sprachlichen und kulturellen Heterogenität der in Südtirol lebenden Bevölkerung kann nach Meinung der Autoren nur ein mehrsprachiges Staatsmodell angestrebt werden. Wie aber kann man den mehrheitlichen Willen der Bevölkerung getrennt nach Sprachgruppen erheben? Und welche Mehrheit müsste dafür festgelegt werden? Eine einfache? Eine absolute? Eine qualifizierte? Weder im staatlichen noch im regionalen bzw. Landeswahlrecht ist eine Abstimmung getrennt nach Sprachgruppen vorgesehen.
– Gottfried Pomella
Dieser Frage ist im Buch ein ganzes Kapitel (S. 70ff.) gewidmet. Es werden eine Reihe von Möglichkeiten aufgezeigt und Vergleiche gezogen, ohne eine Entscheidung vorwegzunehmen, die den Autorinnen nicht zusteht. Vor einer nach Sprachgruppen getrennten Abstimmung würde ich persönlich warnen, da sie demokratiepolitisch höchst problematisch ist. Ein im Buch aufgezeigter Ansatz ist aber die sogenannte »Sprachgruppensensibilität«:
Die Konsequenz der Sprachgruppensensibilität: Bei einer solchen Volksabstimmung bedarf es für einen positiven Ausgang einer doppelten Mehrheit, d. h. einer einfachen Mehrheit der Abstimmenden, und zusätzlich einer einfachen Mehrheit in jenen Gemeinden, wo die betreffende Sprachgruppe die Bevölkerungsmehrheit bildet. Die sprachgruppenübergreifende Zustimmung ist für die Legitimität und Akzeptanz einer Volksabstimmung über die Unabhängigkeit von grundlegender Bedeutung.
– Kann Südtirol Staat? (S. 74)
Das Hauptproblem sieht Pomella jedoch beim italienischen Nationalstaat:
[D]as ist das eigentliche Problem an der ganzen Sache. Solange es den Menschen in Südtirol nicht schlecht genug geht, als dass sie die Schutzmacht Österreich anrufen und vor dem Europäischen Gerichtshof die Einhaltung der Menschenrechte einklagen könnten, bleibt nur der Weg des Dialogs und des demokratischen Verhandelns. Ist es schon schwer, eine Mehrheit für die Gründung eines eigenständigen Staates Südtirol innerhalb aller drei hier lebenden Sprachgruppen zu finden, so dürfte der Konsens seitens des zentralistisehen Nationalstaates Italien noch viel schwerer zu erreichen sein.
– Gottfried Pomella
Wenn Schwierigkeiten ein Grund sind, von einem gegebenenfalls erwünschten Ziel Abstand zu nehmen, hätte Herr Pomella natürlich Recht. Da wir jedoch in einer Demokratie leben, bin ich der Meinung, dass politische Projekte formuliert und Visionen zum Ausdruck gebracht werden dürfen und sollen. Gibt es einen entsprechenden Willen vonseiten der Bevölkerung, wird sich auch das zentralistische Italien — und wird sich die internationale Gemeinschaft — über kurz oder lang nicht gänzlich verweigern können.
Auch London hätte Schottland das Selbstbestimmungsreferendum von 2014 verweigern können, doch es ist anders gekommen. Und viele der heute unabhängigen Staaten sind von einer Ausgangsposition gestartet, die vielen aussichtslos schien.
In turbulenten Zeiten wie diesen, mit einem US-amerikanischen Präsidenten, der die Palästinenser gegen ihren Willen aus ihrem Land aussiedeln will, der den von Russland angezettelten Ukraine-Krieg über die Köpfe Kiews hinweg und unter Ausschluss Europas zu inakzeptablen Bedingungen im Einvernehmen mit Putin zu beenden verspricht, der Kanada als 51. US-Bundesstaat annektieren und die Kontrolle über Grönland übernehmen möchte, finde ich die Beibehaltung des Status quo für Südtirol insgesamt zielführender als die unvermeidliche Eröffnung eines neuen internationalen Konfliktherdes.
– Gottfried Pomella
Das ist Pomellas persönliche Meinung, die ich so nicht teile. Er zählt gegenwärtige Entwicklungen auf, deren Ausgang noch völlig offen ist und begründet damit, dass Südtirol auf seine Weiterentwicklung verzichten sollte, selbst wenn sie erwünscht wäre. Erfahrungsgemäß sind gerade in schweren Krisen (oder als deren Folge) neue Staaten entstanden — denken wir an die beiden Weltkriege oder an den Zerfall der Sowjetunion. Hätten Kolonien aus Respekt vor dem großen Leid, das der Zweite Weltkrieg verursacht hat, auf ihre Forderungen verzichtet, stünden sie wohl noch heute unter dem Joch der Kolonialstaaten.
Eine weitere „Atomisierung” des so schon zersplitterten, häufig uneinigen und deshalb schwer handlungsfähigen Europa durch die Gründung eines neuen Kleinstaates würde Europas Position gegenüber den Großmächten Russland, China und den USA bestimmt nicht stärken und für Südtirol selbst nicht von Nutzen sein.
– Gottfried Pomella
Das sehe ich sogar genau andersherum, auch wenn es vielen zunächst kontraintuitiv erscheinen mag. Kleine Staaten sind an politischer Kooperation und Integration viel interessierter — und auch viel mehr darauf angewiesen — als größere Staaten. Nicht Luxemburg oder Malta haben die EU verlassen und somit die europäische Position geopolitisch geschwächt, sondern das relativ große und starke Vereinigte Königreich.
Die wesentlichen Bereiche unseres Lebens werden zusehends mehr durch die Europäische Union als durch die nationale Gesetzgebung des derzeitigen Zugehörigkeitsstaates Italien geregelt. Somit muss uns vermehrt an einer Stärkung Europas gelegen sein als an einer Einigelung in eine Alpenrepublik.
– Gottfried Pomella
Von einer Einigelung könnte wohl nicht die Rede sein, weil eben kleine Staaten sehr offen und kooperativ sein müssen. Es geht mehr darum, auf internationaler europäischer Ebene mehr Mitspracherechte zu haben und nach innen Lösungen finden zu können, die die vielschichtige Realität unseres Landes berücksichtigen, als sich in irgendeiner Weise abzuschotten.
Eine solche Abkapselung würde außerdem weder den Zustrom von Migranten wirkungsvoll eindämmen, noch dem vielfach beklagten „brain drain” entgegenwirken. Gut ausgebildete Südtiroler, egal welcher Sprache, die im Ausland um mehr Geld eine bessere Arbeit finden, werden durch eine zusätzliche Grenzziehung nicht gerade animiert ihr Wirkungsfeld in die Heimat zu verlegen.
– Gottfried Pomella
Bezüglich Migration sehe ich das ähnlich wie Herr Pomella. Allerdings halte ich das persönlich auch nicht für eine Priorität. Er jedoch widerspricht sich in dem Absatz selbst: Warum sollte eine Grenze, die den Zustrom von Migrantinnen nicht einschränken kann, ausgerechnet Südtirolerinnen davon abhalten, in ihre Heimat zurückzuziehen? Einiges spricht für das Gegenteil: Gehälter wären in einem unabhängigen Staat eher an die tatsächlichen Lebenshaltungskosten angepasst als heute, wo Löhne (im öffentlichen Dienst oder per Kollektivvertrag) oft auf zentralstaatlicher Ebene festgelegt werden. Die Verwaltung eines Staates würde die Schaffung attraktiver Arbeitsplätze mit sich bringen, die es heute nur außerhalb Südtirols gibt. Und schließlich verhindert die restriktive italienische Anerkennungspolitik von Studienabschlüssen (01
02
) bei vielen, dass sie nach dem Studium im Ausland überhaupt zurückkehren können. Ob sie am Brenner eine Grenze zwischen Österreich und Italien oder eine zwischen Österreich und Südtirol überschreiten, dürfte hingegen den meisten egal sein.
Für hochqualifizerte und international vernetzte Menschen ist ein starkes, oftenes Europa als Betätigungsfeld wohl attraktiver als ein kleiner Alpenstaat.
– Gottfried Pomella
Diese Dichotomie halte ich wie schon gesagt für einen Fehlschluss. Tatsache ist, dass in kleinen EU-Staaten mitunter die diverseste, internationalste Bevölkerung anzutreffen ist.
Und schließlich: Hätten wir für die Führung und Verwaltung eines eigenständigen Staates Südtirol das notwendige qualifizierte “Personal”?
Wenn ich an die vielen misslungenen Ausschreibungen öffentlicher Dienste, an die annullierten Wettbewerbe zur Besetzung von Führungspositionen, an die mangelhafte Vernetzung innerhalb des Sanitätsbereichs und schließlich an die drohende Annullierung der Ausschreibung der Brennerautobahn-Konzession denke, an der unsere Volksvertreter jahrelang mit Rom herumgefeilscht haben, dann habe ich große Bedenken. Solange derlei Missgeschicke in einer, wenn auch, autonomen Provinz passieren, bleiben es Provinzpossen. Würde Südtirol Staat, wären es Staatsaffären.
– Gottfried Pomella
Mir ist ehrlich gesagt kein Staat der Erde bekannt, der aufgrund von Personalmangel nicht funktionstüchtig wäre. Wie gesagt würden die neu geschaffenen Stellen voraussichtlich einige hoch qualifizierte Südtirolerinnen ins Land zurückkehren lassen, die heute beispielsweise in Wien oder Rom arbeiten. Genauso wäre es wohl möglich, mit passenden Löhnen und Perspektiven Menschen aus dem Ausland anzulocken. Nicht zuletzt die Südtiroler Universität zeigt, dass es möglich ist, gut ausgebildete Fachleute hierher anzuziehen.
Einige der von Pomella aufgezählten »Missgeschicke« sind durch die überaus bürokratische und widersprüchliche staatliche Gesetzgebung überhaupt erst passiert. Andere beruhen darauf, dass die italienische Rechtslage nicht für föderale Lösungen gedacht ist und sich auch das autonome Südtirol nur bedingt davon ausklinken kann. Das wäre in einem unabhängigen Staat anders.
Völlig affären- oder skandalfreie Staaten gibt es aber nicht, das sollte also auch nicht unser Anspruch sein. Gerade Italien ist doch alles andere als ein Beispiel für Perfektion, Südtirol hätte also genug Spielraum, es zumindest deutlich besser zu machen. Dass dies gelingen könnte, legen unter anderem die Daten nahe, die unserem Land in sehr vielen Belangen eine im Vergleich. mit Italien überdurchschnittliche Performance bescheinigen.
Auf die Rezeption der italienischen Ausgabe [von Kann Südtirol Staat?] seitens der italienischsprachigen Südtiroler*innen können wir gespannt sein und auf diese kommt es im Endeffekt auch an. Eine pure Übersetzung des vorliegenden Textes ins Italienische dürfte der Konsensfindung nicht genügen. Zu deutlich ist in manchen Teilen der Abhandlung, allen Bemühungen der Autoren zum Trotz, die Position aus der Perspektive der deutschsprachigen Südtiroler.
– Gottfried Pomella
Die italienische Fassung wird mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit kein hinreichender Beitrag zur Konsensfindung sein, das sehe ich genauso. Allerdings ist es ein erstes Angebot dieser Art, bei dem sich mehrere Autorinnen ernsthaft mit der Angelegenheit auseinandergesetzt haben. So gesehen stellt es zumindest eine Grundlage für einen möglichen Dialog aller hier lebenden Menschen unabhängig von ihrer Sprache dar. Mehr will das Buch zumindest aus meiner Sicht nicht sein, doch das ist schon viel mehr, als es bisher gab.
Insgesamt kann man sagen, dass viele der von Pomella aufgeworfenen Fragen bereits im Buch beantwortet werden, weshalb ich allen, die das Thema interessiert, die Lektüre nur empfehlen kann.
- 1S. 26ff.
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