Auf Hinweis und Betreiben von Harald Knoflach und mit freundlicher Genehmigung des Autors (ich danke beiden) veröffentliche ich einen offenen Brief, mittels dessen Thomas Moser (diagoge.com) das Bild eines erstrebenswerten Politik- und Gesellschaftsmodells zeichnet. Er warnt vor der um sich greifenden Tendenz, das Spannungsverhältnis von Freiheit und Sicherheit stets zugunsten letzterer aufzulösen:
Sehr geehrte Frau Innenminister Mikl-Leitner, sehr geehrter Herr Bundespräsident, sehr geehrte Regierungsvertreter,
die Funktion des Innenministeriums ist, die innere Sicherheit der Republik zu gewährleisten. Das ist eine der wichtigsten Funktionen eines modernen öffentlichen Gemeinwesens. Allerdings muss man dabei im Auge bewahren, dass innere Sicherheit kein Selbstzweck an sich ist, sondern dadurch etwas anderes »versichert« werden soll; dieses andere ist die freiheitliche Grundordnung, eine prinzipiell so weit wie möglich ausgedehnte (negative) Freiheit des Individuums vom Staat. Kurz gesagt: so viel bürgerliche Freiheit gegenüber dem Staat wie möglich, so viel staatliche Begrenzung dieser Freiheit der Bürger wie nötig.
Wir alle sind betroffen von den Ereignissen — möge man die Tat nun Terroranschlag oder Amoklauf nennen — vom 22. Juli in Norwegen. Doch während Menschen auf der ganzen Welt ihr Beileid bekunden, und der norwegische Ministerpräsident Stoltenberg ankündigt, dass »unsere Antwort (…) mehr Offenheit und mehr Demokratie sein« wird, sehen die österreichischen Regierungsparteien offensichtlich den richtigen Zeitpunkt gekommen, um die Antiterrorgesetze abermals zu verschärfen. Dieses anlassbezogene Vorgehen finde ich nicht nur in einem gewissen Sinne pietätlos, sondern vor allem politisch falsch. Als Gewährsmann führe ich Bundespräsident Fischer an, der sich ebenfalls gegen Anlassgesetzgebung ausgesprochen hat.
[Update: Auch Joachim Gauck, bekannter deutscher Bürgerrechtler und Nominierter für das Amt des deutschen Bundespräsidenten im Jahr 2010, mahnte bei seiner heutigen (27.07.) Eröffnungsrede der Salzburger Festspiele: »Die Politik ist schlecht beraten, für mehr Sicherheit Freiheitsrechte zu beschneiden. (…) Wir dürfen uns von den Fanatikern und Mördern nicht unser Lebensprinzip diktieren lassen.« Europa sei mehr als die Summe seiner Ängste.]
Polizeitechnisch gesehen, wird sich ein Anschlag, wie der von Breivik verübte, ohnehin kaum verhindern lassen; jemand der motiviert genug ist solche Taten zu begehen, der wird einen Weg finden. Doch selbst wenn man eine gewisse Chance in der Verschärfung der staatlichen Überwachung sähe, bleibt die Frage im Raum, um welchen Preis erkauft man sich diese? Wie feinmaschig soll das Netz sein, das wir auswerfen? Wo verläuft die Grenze zwischen wehrhafter Demokratie und Überwachungsstaat? Wenn wir uns durch Terrorismus dazu bringen lassen, unsere bürgerlichen Freiheitsrechte so weit zu beschneiden, dass wir eine hyperstabilisierte Gesellschaft mit einem gläsernen Bürger schaffen, dann haben wir das verloren, was zu verteidigen ursprünglich die Intention war.
Die meiner Meinung nach angebrachte Reaktion auf die Anschläge in Oslo und Utøya seitens der Regierung wäre — nach dem Vorbild des selbst von diesem Anschlag betroffenen Norwegen — gewesen, eine Offensive zu mehr Zivilität und sozialem Zusammenhalt zu starten: mehr Geld für Bildung; Aufklärung gegen und klare Abgrenzung gegenüber (auch von Vorformen) Extremismus aller Art; wirkliche Angebote (nicht nur Appelle, sondern Öffnung der Parteimaschinen) an die Bürger, an der Demokratie aktiv (auch außerhalb der Wahlzelle) teilzunehmen; (nicht zuletzt) die sozio-ökonomischen Chancen der Menschen zu verbessern etc. Wir brauchen eine Entwicklung hin zu mehr mündigen — nicht nur als verstandesmäßige Urteilskraft, sondern auch im Sinne von Fähigkeit zur ökonomischen und sozialen Teilhabe verstanden — Bürgern und keinen paternalistischen Staat.
Im Innenministerium wurde Anfang des Jahres ein neugegründetes Integrationsstaatssekretariat angesiedelt. Integration der Gesellschaft bedeutet schlicht gesagt, das Maß an Vertrauen innerhalb einer Gesellschaft zwischen unterschiedlichen Menschen und Gruppen zu steigern. Doch der Versuch, der Bevölkerung weißzumachen, man brauche schärfere Überwachungsmaßnahmen — also anders formuliert: ein höheres Maß an staatlichem Misstrauen gegenüber den Bürgern — wirkt dieser Bemühung genau konträr entgegen: die vordergründige Verstärkung der Staatssicherheit führt in Wahrheit unterschwellig zu einer Vermehrung der »Verunsicherung« in der Zivilbevölkerung selbst.
Ich bitte Sie höflichst, über diese Argumente nachzudenken. Danke.
Mit freundlichen Grüßen
Thomas Moser
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